Lehtolainen, Leena
Lichter durchschnitten die Dunkelheit, meine Augen schmerzten. Eine Straßenbahn schlitterte über die Gleise, zwischen die sich nasses Laub geschoben hatte. Die Bremsen kreischten wirkungslos, der Fahrer brachte die Bahn erst ein gutes Stück hinter der Haltestelle zum Stehen. Eine Polizeisirene mischte sich unter den Lärm, die Autofahrer versuchten, dem Einsatzwagen Platz zu machen, und hupten sich gegenseitig an. Manchmal sang die Stadt für mich, doch heute brüllte sie nur.
Am Hakaniemi-Markt schrak ich auf, weil mich jemand anhupte, obwohl ich die Straße ordnungsgemäß auf dem Zebra-streifen überquerte. Als ich genauer hinsah, merkte ich, dass es Kaitsu am Steuer seines Taxis war. Er winkte mir zu. Auf der Rückbank saß ein Fahrgast, und ich überlegte, ob mein Bruder ihm erzählen würde, wem er gewunken hatte.
Ich ging am Stadttheater vorbei zur Alppikatu. Es war schon dunkel, vereinzelte Regentropfen fielen vom schwarzen Himmel, eiskalt, fast schon Schneeregen. Vielleicht wäre es besser gewesen, mit dem gesunden Leben im Frühjahr anzufangen und nicht im Herbst. Als ich an Saras Haus vorbeikam, schaute ich zu ihrem Fenster auf. Es war hell erleuchtet. Ich klingelte zweimal an der Haustür, doch Sara öffnete nicht. Also versuchte ich es mit dem Handy und hatte Erfolg.
»An der Haustür klingeln alle möglichen Spinner«, erklärte sie über die Sprechanlage und ließ mich ins Haus. Inzwischen hatte ich genug für meine Kondition getan, also fuhr ich mit dem Aufzug in den sechsten Stock.
Saras Wohnung war nicht viel größer als meine, aber voll von Bildern und Figürchen. In einer Ecke brannten Räucherstäbchen, die einen intensiven Geruch verströmten. Sara-Musik schwebte durch das Zimmer, irgendetwas im New-Age-Stil, ohne Worte, nur mit Vokalen. Sara trank Wein und schenkte auch mir ein Glas ein, ohne mich zu fragen.
Ich hätte ablehnen sollen, das wusste ich. Sara hätte Verständnis gehabt, sie hatte selbst einmal mit Alkoholproblemen gekämpft. Aber gerade das ließ mich schweigen. Ein Glas konnte ich wohl mittrinken, dann machte ich meinen Test eben ein paar Wochen früher als geplant.
»Was führt dich denn zu mir?«, fragte Sara und warf sich auf das mit Kissen und Tüchern bedeckte Sofa. Diesmal trug sie türkisfarbenen Kajal um die Augen, passend zu den Strümpfen und dem klirrenden Halsschmuck. »Ich hatte gerade an dich gedacht. Unsere Volkshochschule sucht jemanden, der bei der Weihnachtsfeier der Kunstgruppen singt. Könntest du das machen?«
»Warum singst du nicht selbst?«
»Weil ich Malerin bin und keine Sängerin! Die Schule kann dir nichts dafür bezahlen, aber wir lassen einfach den Hut herumgehen. Es werden sicher hundert Leute da sein; wenn jeder einen Fünfer gibt, kommt schon ein ganz anständiges Honorar zusammen.«
»Was müsste ich denn da singen?«, fragte ich zögernd. Mein letzter Auftritt lag Monate zurück, und ich wusste, dass ich auch beim nächsten Mal vor lauter Angst wieder tagelang vorher krank sein würde. Andererseits brauchte ich vor der Gesangsprüfung im nächsten Frühjahr Routine.
»Das Übliche, Folksongs und ein paar Weihnachtslieder, die alle mitsingen können. Du kannst auch ein, zwei eigene Lieder darunterschmuggeln«, meinte Sara. Der Form halber behauptete ich, zu Hause im Kalender nachsehen zu müssen, obwohl meine Zusage bereits feststand – ich durfte kein Angebot ausschlagen.
Der Wein wärmte angenehm. Sara holte eine Tüte Erdnüsse dazu und erklärte, sie habe den ganzen Tag noch nichts gegessen, weil sie Aufnahmen für einen Dokumentarfilm über ihr Leben gehabt hatte. Es war bereits die dritte Aufzeichnung gewesen, denn die Filmemacher interessierten sich speziell für ihr Leben.
»Hast du auch über den Inzest gesprochen?«, erkundigte ich mich und versuchte, nur mäßig interessiert zu wirken.
»Aber ja! Auf Mutter brauche ich ja jetzt keine Rücksicht mehr zu nehmen, gut, dass sie tot ist! Andauernd musste man aufpassen, um nur ja ihre Gefühle nicht zu verletzen, hässliche Dinge wollte sie einfach nicht sehen. Zum Glück ist das jetzt vorbei!«
Auch ich hatte auf Großmutter Rücksicht genommen, hatte versucht, in ihrer Anwesenheit nicht zu fluchen, und ihr von bestimmten Ereignissen in meinem Leben gekürzte und berei-nigte Versionen erzählt. Ich glaube, von meiner Bulimie hat sie nie erfahren. In der schlimmsten Phase war ich nicht nach Pielavesi gefahren, und da sie selten in die Hauptstadtregion kam, hatten wir uns
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