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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: du hättest vergessen Du dachtest
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Mundwasser. Während der Arbeitszeit aß ich nur leichte Suppen oder Salate, weil ich mich auf der Personaltoilette nicht ungestört übergeben konnte.
    Ich vermied es, bei meiner Mutter zu essen oder mit Freunden auszugehen, denn ich kam nicht mehr gegen den Brechreiz an.
    Nach jeder Mahlzeit forderte mein Körper unerbittlich nach Entleerung. In der winzigen Toilette in meiner Wohnung hallte jedes Geräusch, und die Abflussrohre gurgelten laut. Ich schaltete jedes Mal das Radio ein, damit die Nachbarn nicht mitbekamen, was ich tat. Einmal hörte ich Sirenengeheul, als ich gerade fertig war, es kam näher und brach vor unserem Haus ab.
    Ich schloss mich auf der Toilette ein, weil ich glaubte, die Nachbarn hätten den Notarzt gerufen und der würde mich ins Krankenhaus einweisen.
    Trotz meiner Ängste fand ich die Methode genial: Ich konnte so viel herunterschlingen, wie ich wollte, ohne zuzunehmen.
    Mein Bauch war ab und zu aufgebläht, und ohne Medikamente hatte ich keinen Stuhlgang mehr, meine Zähne waren stumpf, und ich hatte einen säuerlichen Geschmack im Mund, aber dick wurde ich nicht, das war die Hauptsache. Ich hütete mich, zu lächeln oder gar zu lachen, damit niemand meinen Atem roch oder meine Zähne sah. Grund zum Lächeln hatte ich ohnehin nicht. Meine Arbeit tat ich gewissenhaft. Die Kasse stimmte auf Heller und Pfennig, die Verkaufsregale waren immer ordentlich aufgeräumt, ich wusste, welche Klarsichthüllen oder Kalender dem Kunden zusagen würden, der jeweils vor mir stand. Statt Rockmusik zu hören, analysierte ich zur Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung eine Partitur nach der anderen. Für Freunde hatte ich keine Zeit. Es gab nur noch die heilige Dreieinigkeit: mich, das Essen und die Kloschüssel. Gelegentlich luden wir als Ehrengast den Alkohol ein. Ich liebte es, einen Kater zu haben, weil ich mich dann restlos entleerte, aber diese Exzesse konnte ich mir nur an freien Tagen erlauben.
    Im Herbst bekam ich einen Studienplatz an der Universität und wurde zum Gesangsunterricht an der Musikschule in Käpylä zugelassen, Letzteres allerdings nur dank des Beruhigungsmittels, das Sara mir gegeben hatte. Meine Therapeutin meinte später, die Zulassung zum Studium habe meine Situation noch verschlimmert. An der Universität kannte ich niemanden. Alle anderen hatten das Sibelius-Gymnasium besucht oder spielten im Orchester des Konservatoriums. An der Musikschule musste ich den Theoriekurs für Anfänger absolvieren, in dem außer mir nur Zehnjährige saßen. Unsere Lehrerin schrieb mit quietschen-der Kreide Notenbeispiele an die Tafel, und ich, die ich an der Universität Kontrapunkte und Partituren analysierte, hatte selbst bei den einfachsten Solfeggio-Übungen Schwierigkeiten, weil ich jedes Mal so nervös wurde, dass mir die Stimme im Hals steckenblieb. Die Kinder lachten mich aus. Sie kamen alle aus Musikerfamilien und waren schon vor ihrer Geburt zum Musikunterricht angemeldet worden. Für sie war singen so natürlich wie sprechen.
    Damals trug ich nur schwarze Kleidung. Sie ließ mich schlanker aussehen, und an der Universität stach ich damit nicht hervor. Ich musste mich stark schminken, um die blasse Haut, die spröden Lippen und die dunklen Schatten unter den Augen zu verbergen. Eigene Lieder schrieb ich nicht mehr, denn neben dem, was ich den ganzen Tag hörte, spielte und sang, kamen sie mir unzulänglich vor.
    Schließlich kam der große Zusammenbruch, der mir keine andere Wahl ließ, als zu ergründen, warum es mir so ergangen war. Jetzt verstehe ich alle Gründe, das Gefühl der Schutzlosig-keit, das Vaters Weggehen verursacht hat, die Fehler, die Mutter in ihrer Unerfahrenheit gemacht hat, die Wankelmütigkeit meiner Großeltern und Saras Labilität, Ranes Selbstmord und all das andere, das mich angeblich zu dem gemacht hat, was ich bin. Man hat mich analysiert, zerlegt und anschließend wieder zusammengefügt. Nun bin ich fast wieder ganz, aber irgendwo fehlt ein Stück.
    Wenn ich vollständig wäre, könnte ich trinken wie andere, ab und zu ein Glas. Mit dem Essen komme ich inzwischen zurecht, aber Alkohol ist ein Kapitel für sich. Ich darf ein für alle Mal nichts trinken. Seit zwei Wochen habe ich keinen Tropfen angerührt. Das letzte Mal habe ich es so lange ohne Alkohol ausgehalten, als ich in Therapie war. Ich weiß jetzt, warum ich trinke. Weshalb will ich es trotzdem tun? Was ich weiß, kann nicht die ganze Wahrheit sein. Der eigentliche Grund muss woanders liegen.
    Es

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