Lehtolainen, Leena
schneller.«
Keine Molltonart war dunkel genug, um meinen Schmerz wiederzugeben. Ich hatte das Gefühl, sterben zu müssen, es war, als bliebe alles stehen. Karri verbrachte die Nacht bei seinen Eltern, und ich trank alles, was wir im Haus hatten: drei Flaschen Bier, einen Rest Rotwein und zwei Miniflaschen Kognak.
Wenn ich Schlaftabletten gehabt hätte, dann hätte ich sie an diesem Abend genommen. Stattdessen schluckte ich den Inhalt von zwei Packungen Schmerztabletten. Das Resultat waren eine fürchterliche Austrocknung und ein Brummschädel, der drei Tage anhielt. Karri brachte mir Orangensaft und Mineralwasser und wirkte so bedrückt, dass ich es nicht fertigbrachte, ihn zu hassen. In der letzten Zeit unseres Zusammenlebens gingen wir uns aus dem Weg. Ich fürchtete, die Miete nicht allein aufbrin-gen zu können, und wollte ohnehin nicht in der Wohnung bleiben, in der mich alles an Karri erinnerte. Im Frühsommer fand ich eine Wohnung mit achtzehn Quadratmetern in der Siilitie, und dort ging endgültig alles in die Binsen. Ich hatte keinen Studienplatz und keinen Karri, die Arbeit in der Schreibwarenabteilung der Buchhandlung reizte mich nicht.
Mutter hatte mir die Stelle verschafft, nicht in der Filiale in Tapiola, wo sie selbst arbeitete, sondern im Hauptgeschäft in Helsinki. Aber ich hatte die Nase voll von bunten Heften, duftenden Radiergummis und My-little-Pony-Stiften.
Wenn ich mir als Kind wehgetan hatte, pustete meine Mutter zwar auf die wunde Stelle, hatte aber nie Zeit, mich lange genug in die Arme zu nehmen. Stattdessen steckte sie mir etwas Gutes in den Mund: Kuchen oder ein Stück Zucker, manchmal sogar Schokolade. Wie simpel sich die Gleichung anhörte: Essen war gleich Trost und Liebe. So einfach und so wahr. Zuerst aß ich nur. Eis, Käse, Kekse, Nüsse, alles, was Milch und Fett enthielt.
Später wollte meine Therapeutin wissen, wie lange ich gestillt worden war, aber ich mochte Mutter nicht danach fragen. Sie war ohnehin niedergeschlagen genug, als sie von meiner Krankheit erfuhr. In den Frauenzeitschriften stand ja immer wieder, an Essstörungen trügen die Mütter Schuld, und Sara stieß ins selbe Horn.
Aber die Schuldige war ich selbst. Ich und meine Begierde.
Immer hungrig und die ganze Zeit durstig, wie es in einem Song der Band Sielun veljet hieß. Ich lag auf dem Sofa und hörte mir sehnsuchtsvolle Lieder an: »Geh nicht fort, njet, njet«, »Scheiß-
egal, ob ich lebe oder sterbe«, »Sheena, verlass mich nicht«.
Als Teenager hatte ich einen großen Busen und breite Schultern gehabt, jetzt aber wurde ich richtig fett. Zwei Kilo pro Monat zuzunehmen ist eine Leichtigkeit, wenn man ständig futtert. Während des Sommers legte ich sieben Kilo zu. Am Arbeitsplatz ließ ich mir einen größeren Kittel geben, zu Hause trug ich weite T-Shirts und Radlerhosen. In den Spiegel sah ich gar nicht mehr. Abends saß ich in meiner winzigen Wohnung auf dem Sofa, stellte die Musik lauter, um den Streit der Nachbarn und das Rumpeln der U-Bahn nicht zu hören, und aß, aß und trank.
Kaitsu sorgte dafür, dass mein Leben eine Wende nahm. Er besuchte mich eines Tages und sagte geradeheraus, was ich mir nicht eingestehen wollte:
»Verdammt nochmal, du bist aber fett geworden! Du siehst ja aus wie vierzig.«
Die Worte blieben haften. Verdammt nochmal dubistfettge-worden fettgeworden fettgeworden, wie vierzig zig zig … Ich war einundzwanzig und sah nichts mehr vor mir als Schokolade und Likör.
Ich wusste, dass manche Menschen sich nach dem Essen übergaben. In meiner Klasse hatten zwei Mädchen unter Bulimie gelitten. Weil ich mich genierte, ein Buch über Essstö-
rungen zu kaufen, klaute ich es und las nach, wie Bulimiker es anstellten, nicht dick zu werden. Auch ich ging dazu über, mich zu erbrechen. Innerhalb von zwei Monaten hatte ich mein altes Gewicht wieder erreicht, bis Weihnachten war ich sogar schlanker geworden als zuvor. Ich ging zur Gymnastik und bereitete mich auf die Aufnahmeprüfung in Musikwissenschaft vor. Im Frühjahr wollte ich mich auch an der Musikschule bewerben. Ich würde Karri zeigen, wie gut ich ohne ihn zurechtkam.
Die Trinkgelage, die ich in der Zeit mit Karri gefeiert hatte, hatten mir Routine im Erbrechen verschafft. Daher dauerte die Phase, in der ich mir den Finger in den Hals stecken musste, nicht lange, schon nach wenigen Monaten übergab ich mich reflexartig, sobald ich eine Kloschüssel sah. Ich hatte einen enormen Verbrauch an Zahnpasta und
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