Lehtolainen, Leena
behauptet, Mütter wären zu allem fähig, um ihre Kinder zu schützen. Es gibt die unglaublichsten Geschichten über Frauen, die ein schweres Auto hochheben, um ihr Kind darunter hervorzuholen, oder sich nur von Salatblättern ernähren und dennoch ihre Babys stillen. Aber einen Mord zu begehen war krankhaft, es war falsche Liebe. Hatte Vater uns verlassen, weil Kaitsu und ich unserer Mutter wichtiger waren als er?
Warum hatte ich Sara nicht gebeten, mir etwas zu trinken mit auf den Weg zu geben? Der süße Likörgeschmack klebte mir am Gaumen, ich fuhr mit der Zunge darüber, um noch eine Spur Alkohol zu erhaschen. Rockmusiker sangen über Schnaps und Tod, nur von Frauen wollte man solche Lieder nicht hören, obwohl sie mittlerweile tranken wie die Männer. Vielleicht sollte ich ein Trinklied schreiben, ein Lied auf die Romantik des Verfalls.
Ich nahm die Gitarre und zupfte ein paar Akkorde. Draußen heulte der Wind, er trieb nasse Flocken herein, doch das passte zu meiner Stimmung. Die Pfützen konnte ich am nächsten Morgen immer noch aufwischen. Ein Trinklied forderte eine fröhliche Tonart, unbedingt Dur, statt Mollmodulationen könnte ich blueshafte Septakkorde verwenden. Nur Jallu verlässt mich nie, Jallu war ein Männername, aber so hieß auch mein Lieb-lingsschnaps, das war ein phantastischer Name für meinen Song.
Wo zum Teufel waren Papier und Stift?
D-Dur erschien mir richtig, ich schrieb Harmonien und Worte auf, der Song entstand wie von selbst, der Text stellte sich fast gleichzeitig mit der Melodie ein. Zum Schluss sang ich mein Lied aus voller Kehle, bis die Nachbarn unter mir an die Decke klopften. Es war schon halb zwei. Ich brauchte unbedingt ein eigenes Studio, schallisoliert und mit vernünftiger Aufnahme-technik.
Ich schlief glücklich ein und erwachte erst gegen elf vom Klingeln des Telefons. Mein Kopf tat entsetzlich weh. Ich tastete nach den Schmerztabletten, während ich mit der anderen Hand nach dem Handy griff.
»Mutter hier. Ist alles in Ordnung?«
»Ja, ja. Wieso?«
»Sara hat mich heute Morgen angerufen. Du sollst schreckliche Dinge über Großvater gesagt haben.«
Ich schaffte es, eine Tablette durch die Folie zu drücken, ging in die Küche, um Wasser zu holen, und wäre beinahe über meine Gitarre gestolpert. Warum hatte ich sie mitten im Zimmer liegengelassen? Durch die Balkontür zog es, ich hatte sie nicht richtig zugemacht. Draußen lagen etwa zwei Zentimeter Schnee, aber auf dem Asphalt war er schon geschmolzen. Schnee, Erde und Gras bildeten ein Gemisch, das aussah wie Erbrochenes.
»Ich kann jetzt nicht reden, ich muss los.«
»Du hörst mir erst mal zu, Katja! Ich habe mir Saras Geschichten jahrelang angehört, ich bin daran gewöhnt, aber wenn du auch noch anfängst, halte ich es nicht mehr aus. Ich dachte, die Dummheiten wären endlich vorbei.«
»Welche Dummheiten?«
»Der ganze Blödsinn mit dem Essen und dem Alkohol …«
»Leck mich«, sagte ich kraftlos und drückte die Schlusstaste.
Ich legte mich wieder ins Bett, fand jedoch keinen Schlaf. Wenn ich einen richtig schlimmen Kater hatte, konnte ich den ganzen Tag schlafen, aber der bescheidene Hangover, den ich mir diesmal eingehandelt hatte, machte mich unruhig. Heute Abend würde ich auf keinen Fall etwas trinken.
Das Blatt mit meinem Trinklied lag zerknüllt im Bücherregal.
Ich nahm es in die Hand und versuchte mich zu erinnern, wie ich mir die Melodie vorgestellt hatte. Der Text war kompletter Mist, bestimmt war die Musik auch nicht besser. Voller Abscheu dachte ich an das, worüber ich mit Sara geredet hatte.
Warum hatte ich ihr von meinen Gedanken erzählt? Außer Mutter würde bald halb Helsinki davon erfahren, und Sara würde sich natürlich auf mich berufen, um ihre Hirngespinste glaubwürdiger zu machen.
Ich versuchte, die Zeitung zu lesen, doch die Buchstaben liefen davon. Es kam mir vor, als wären die Schlagzeilen in einer Sprache geschrieben, von der ich nur eine vage Vorstellung hatte, auf Griechisch oder Esperanto. Ich wusste, dass ich mich am Abend nicht daran erinnern würde, was in der Zeitung gestanden hatte.
Der Nachbar unter mir hatte zum Schluss an die Decke geklopft … Oje. Ich musste ihm schreiben und mich entschuldigen. Bei ihm klingeln wollte ich auf keinen Fall. Alle Nachbarn in diesem Haus waren freundliche Leute. Ob auch das Rentnerpaar mit dem Staubsauger unter meinem Grölen gelitten hatte? In meiner vorigen Wohnung hatte ich mich zum Schluss nur noch frühmorgens
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