Lehtolainen, Leena
ist leicht, abstinent zu bleiben, wenn man keinen Alkohol im Haus hat und um jede Kneipe einen großen Bogen macht.
Wirklich stark bin ich erst, wenn ich es schaffe, mit Bekannten in ein Lokal zu gehen und nach dem ersten Bier aufzuhören oder mir zu Hause einen Drink einzuschenken und den Rest in der Flasche zu lassen. Ich werde noch ein paar Wochen warten und mich dann auf die Probe stellen. Falls Kode Salama meinen Brief beantwortet, kaufe ich eine Flasche Schnaps. Schließlich ist es ein Grund zum Feiern, wenn ein Traum in Erfüllung geht.
Ich weiß, dass ich mir keine großen Hoffnungen machen darf, denn Kode Salama bekommt wahrscheinlich immer noch täglich Fanpost. Was soll ihm da mein Brief bedeuten?
Meine Therapeutin an der Poliklinik für Studenten hatte mir geraten, nach dem Abschluss unserer Einzelsitzungen eine Gruppentherapie zu machen, wo ich mit anderen Betroffenen reden konnte. Das wollte ich auf keinen Fall. Ich hatte aufgehört, mich zu übergeben, und gelernt, die Fressattacken mit einem Speiseprotokoll im Griff zu halten. Folglich war ich gesund.
Noch eine Woche, dann würde mein Seminar beginnen, jeweils um fünf Uhr nachmittags, sodass ich mich vormittags noch vorbereiten konnte. Leider standen uns keine Instrumente zur Verfügung. Der Professor war dankbar für meine Bereitschaft, den Kurs zu übernehmen, und sprach mit mir fast wie mit seinesgleichen. Er riet mir, die Magisterarbeit spätestens im Frühjahr einzureichen, damit ich im Sommer mein Diplom bekam. Zu Beginn des nächsten Studienjahres wurde am Institut eine Assistentenstelle frei, für die es allem Anschein nach keinen anderen Bewerber mit dem Spezialgebiet Rockmusik gab. Wenn ich für meine Magisterarbeit eine halbwegs annehm-bare Note bekam, hatte ich gute Chancen.
Bei diesen Gedanken geriet ich in Panik. Die Beklemmung trieb mich an den Kühlschrank. Ich aß drei Pflaumen und kämpfte gegen den Drang an, Bier zu kaufen oder mich in die nächste Kneipe zu setzen. Um mich abzulenken, ging ich auf den Balkon. Über dem Meer kreischten Möwen, und vom Gefängnis her war eine dumpfe Stimme zu hören, es klang wie eine Durchsage. Vor ein paar Nächten war ich von einem ähnlichen Geräusch geweckt worden.
Gefängnisgeräusche: hart, metallisch und hallend, Schritte, klirrende Schlüssel, aggressive Männerstimmen, Klopfsignale an den Heizungsrohren. Löffel klappern auf den Tischen. War das Geschirr wirklich aus Blech wie im Film? Hatte Rane seine Gitarre mitgenommen, hatte ihr Klang ihm die Haft erträglicher gemacht, oder hatten die verwitterten Wände die Töne erbar-mungslos zurückgeworfen? Was hörte einer, der sich erhängte, als Letztes – den Stuhl, der polternd umkippt, oder das knacken-de Geräusch seiner Nackenwirbel?
Ranes angebliche Tat war der Schlüssel zu allem, dachte ich.
Sara würde ich alles zutrauen, aber weshalb hätten Mutter, Großmutter und Veikko bereit sein sollen, sie zu decken? Und wieso hatte Rane sie nicht verraten? Vielleicht hatte er wirklich einen Filmriss gehabt, aber die anderen wussten, wer Großvater erschlagen hatte. Großmutter konnte es nicht gewesen sein, auch Sara nicht. Es musste jemand gewesen sein, der nicht nur für sein eigenes Leben die Verantwortung trug. Die Einzige, die in Frage kam, war Mutter.
Sara redet so viel, dass man hinter ihrem Geschwätz selten die Wahrheit erkennt, aber vielleicht stimmten ihre Inzestgeschichten ja doch. Womöglich hatte Mutter dasselbe durchgemacht wie sie. Ich kann mich nicht erinnern, was Großvater mit mir getan hat, und genau da liegt die Antwort. Schock und Schuldgefühl sitzen so tief, dass ein halbes Jahr Therapie nicht ausgereicht hat, um sie auszugraben. Meine Mutter hat meinen Großvater umgebracht, damit er mich nicht mehr anrührte.
Am liebsten hätte ich sie sofort angerufen, doch das war sinnlos, sie hätte alles abgestritten. Meine einzige Hoffnung war Sara, die sich jedoch weder am Festnetzanschluss noch am Handy meldete. Ich sah Ranes Bild an und hätte meinen Onkel gern um Verzeihung gebeten, wenn er es nur hätte hören können. Für mich hätte niemand zu töten oder zu sterben brauchen. Keiner konnte mich erlösen, keiner außer mir selbst.
Da ich es in der Wohnung nicht mehr aushielt, zog ich mich warm an und lief die Treppe hinunter. Zweimal umrundete ich das Gefängnis, sah zu den Fenstern hinauf und überlegte, wohin Rane gestarrt haben mochte. Dann ging ich die Hämeentie entlang in Richtung Hakaniemi. Grelle
Weitere Kostenlose Bücher