Lehtolainen, Leena
Text nicht so viele Flüche unterbringen kann, sondern vor allem daran, dass die Schrift weder Vaters breite Diphthonge wieder-geben kann noch den Geruch, der seinem Mund entströmte.
Es gibt Tage, an denen ich mit keinem Menschen ein Wort wechsle. Das sind klare, schöne Tage. Manchmal spreche ich wochenlang nur am Telefon Finnisch. Dann schalte ich das Radio ein und erwische versehentlich einen Werbesender, wo irgendeine junge Unperson schnattert und verzweifelt zu verbergen versucht, dass sie aus der Provinz stammt. Diese Amöben genieren sich für ihre Eltern, die Ende der sechziger Jahre aus Hintertupfingen in die Hauptstadtregion gezogen sind.
Man bewundert den Urgroßvater, der in Summa oder Ihantala gegen die Russen gekämpft hat, aber selbst zieht man so schnell wie möglich in eine winzige Bude in der Innenstadt von Helsinki, für die man viertausend Mark im Monat hinblättern muss. Vom restlichen Geld reisen sie nach Paris oder Goa, wo sie die richtige Sprache mit genau der richtigen Betonung sprechen, während sie in ihrer eigenen Sprache Wörter wie Stoppelacker oder Heureuter nicht mehr kennen. Diese Menschen wagen es nicht einmal, sich fortzupflanzen, weil sie befürchten, in ihren eigenen Kindern käme das alte Hintertupfingen zum Vorschein, das sie sich selbst mit so viel Aufwand an Spinning und Fasten ausgetrieben haben. Mag sein, dass sie Europäer sind, aber alles, was sie wissen, haben sie aus Büchern gelernt. Sie selbst erleben nichts mehr, weil sie sich sämtliche Erlebnisse vom Fernsehen und von Musikvideos vorgaukeln lassen. Sie haben eine Vorstellung davon, wie Verliebtheit oder ein Orgasmus sich anzufühlen hat, und wenn die Realität dieser Vorstellung nicht entspricht, verwerfen sie die Wirklichkeit.
Einerseits wollen sie ihre Wurzeln und ihre Bindung an einen Ort aufgeben, andererseits suchen sie verzweifelt in ihrer Kindheit nach Gründen für ihre Unzufriedenheit oder Krankheit.
Wenn sie außerhalb ihres Ichs keinen Grund entdecken, erfinden sie einen. Selbst unter meinen Altersgenossen gibt es mittlerweile solche ewigen Kinder.
Ständig muss etwas passieren, notfalls eine Beziehungskrise, wenn das Leben sonst nicht bunt genug ist. Für meinen Großvater war es ein ganz besonderes Ereignis, sich einmal den Bauch mit Fleisch vollschlagen zu können, und die Sternstunde im Leben meiner Großmutter schlug, als der Propst sich nach dem Gottesdienst erkundigte, wie es ihr gehe. Ich glaube, der Geist kann nur in der Ereignislosigkeit etwas hervorbringen.
Mir ist es wichtig, einfach nur zu sein und zu sehen. Mir genügt tagaus, tagein dieselbe Landschaft, der Schatten der Bäume auf dem Feld, der Sonnenuntergang, der sich im Sauna-fenster spiegelt. Ich sitze stundenlang am Ufer und beobachte, wie das Licht wechselt. Wenn das Meer zugefroren ist, gleicht der Horizont einem Gemälde, das sich in jeder Minute fast unmerklich verändert. Nur wenn man lange genug hinschaut, nimmt man die Veränderung wahr.
Wahrscheinlich müsste ich Sara dankbar sein, denn ihre TV-Show hat mir geholfen, klarer zu denken. Nachträglich habe ich bereut, was ich zu Sirkka gesagt habe. Die Andeutung, auch ich hätte über Ranes Schuld oder Unschuld nachgedacht, hätte ich ihr ersparen sollen. Sie tut mir beinahe leid, weil Sara in aller Öffentlichkeit Lügen über sie erzählt. Ich habe Sirkka immer für einen Menschen gehalten, der alles erträgt, wie unsere Mutter.
Ihren Mauri habe ich nie kennengelernt, aber allem Anschein nach ist er ein Feigling.
Aber wer bin ich, über Feigheit zu reden? Ich habe mir als Kind von Vater und Rane anhören müssen, ich sei ein Feigling, später von einigen Frauen. Sie betrachteten es als Feigheit, dass ich nicht mit ihnen zusammenleben wollte. Zu einer habe ich gesagt, ich zöge es vor, allein zu masturbieren als in ihr. Ich drückte mich absichtlich verletzend aus, sodass sie den Feigling auch noch zum Schwein erklären konnte. So war es besser für sie.
Ich weiß nicht, was Mutter getan hat, um keine Kinder mehr zu bekommen, aber irgendeinen Weg muss sie gefunden haben.
Als kleiner Junge bin ich ein paarmal ins Schlafzimmer geplatzt, während meine Eltern zugange waren. Ein freudianischer Filmemacher hätte daraus ein lebenslanges Trauma konstruiert.
In meinem zweiten Roman habe ich eine dieser Szenen be-schrieben und versucht, meine Erinnerung so genau wie möglich wiederzugeben. Auf den Gedanken, Mutter, die alle meine Bücher gewissenhaft las, auch wenn sie nie
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