Lehtolainen, Leena
Glücksmomente, wenn sie an meiner Brust lagen und mich mit weit aufgerissenen Augen ansahen. Vater war zufrieden gewesen, einen Enkelsohn bekommen zu haben, auch wenn er nicht den Namen seiner Familie trug. Voller Eifer behauptete er, Kaitsu sehe ihm ähnlich, und damit hatte er nicht unrecht.
Kaitsu hat dünnes blondes Haar und ein schmales Kinn wie Vater und Rane.
Irgendwann schlief ich endlich ein, und als mich der Wecker um viertel nach sieben weckte, erinnerte ich mich anfangs nicht, was am Abend passiert war. Die Sonne schien, und das Ther-mometer zeigte sieben Grad minus. Kaitsus Schuhe standen im Flur, er war sicher gerade erst eingeschlafen. Vielleicht würde ich ihn am Nachmittag anrufen und fragen, wann wir wieder einmal gemeinsam essen konnten. Sollte ich auch Katja dazu einladen, damit sie sah, dass ich als Mutter kein völliger Fehlschlag war?
Falls auf der Arbeit über den Dokumentarfilm gesprochen wurde, wollte ich so tun, als hätte ich ihn nicht gesehen. Ich würde behaupten, Sara habe mir nichts davon gesagt. In der Programmvorschau waren die Beteiligten nur mit dem Vornamen genannt worden. Plötzlich fiel mir ein, dass ich Veikko und Sara für Weihnachten zum Essen eingeladen hatte. Die Einladung würde ich rückgängig machen, so viel stand fest. Vielleicht konnte Katja es Sara ausrichten, ich wollte nie mehr mit ihr reden. Mutter war tot, auf ihre Wünsche brauchte ich keine Rücksicht mehr zu nehmen. Dieser Gedanke löste eine Freude in mir aus, die mich erschreckte.
Der kalte Wind kündigte den Winter an. Ich zog die Mütze über die Ohren und überlegte, dass ich mir endlich einen ordentlichen Winterhut leisten konnte, einen warmen mit Pelzbesatz. Am besten schaute ich mich nach der Arbeit bei Stockmann oder im »Big Apple« um. Im Bus ertappte ich mich bei der Überlegung, ob die Mitfahrenden den Dokumentarfilm gesehen hatten. Was hatten sie wohl von Sara gedacht? »Die arme Frau, sie hat es wirklich nicht leicht gehabt. Ihre Schwester muss verrückt sein, den Inzest zu leugnen.«
Am Vormittag ging alles gut. Meine Kollegin Airi war gleich nach »Emergency Room« schlafen gegangen, und Jukka hatte den Abend mit Freunden in einer Kneipe verbracht. Ich riet ihm, Pfefferminzdrops zu lutschen, damit die Kunden seine Fahne nicht rochen. Da es im Geschäft ruhig war, packte ich Bücher-kisten aus. Für die Mittagspause nahm ich mir die Boulevard-zeitung mit, denn sie brachte ein Interview mit dem Schauspieler, der in »Verheimlichtes Leben« den Ismo darstellt. Er hatte auch im wirklichen Leben zwei Kinder und angelte gern. Bei einem Fernsehquiz hatte ich ihn einmal mit seiner Frau gesehen, sie war schön und hatte ein freundliches Lächeln. Ich vergaß immer wieder, dass er nicht Ismo war, sondern eben ein Schauspieler, der auch ganz andere Rollen übernehmen konnte, zum Beispiel die eines Polizisten oder eines Kriegshelden. Wäre mir der richtige Mensch so sympathisch wie die Figur, die er darstellte?
Als Leila zur Abendschicht kam, las ich ihr vom Gesicht ab, dass sie die Sendung gesehen hatte.
»Der Dokumentarfilm gestern Abend war ja erschütternd«, flüsterte sie mir zu, als sie für einen Kunden ein Buch holte.
»Ich wusste gar nicht, dass du es so schwer gehabt hast.«
Anfangs hatte ich Leila gemocht. Sie hatte Interesse für mich gezeigt und gefragt, wie ich als Alleinerziehende zurechtkam.
Immer wieder hatte sie erklärt, wir Frauen müssten zusammen-halten. Allmählich war mir jedoch klargeworden, dass sie nach dem Motto »Wissen ist Macht« handelte. Durch ihre Fragen, ihre Besorgnis, ihr Verständnis verschaffte sie sich Macht. Je schlechter es jemandem ging, desto zufriedener war sie. Ich hatte gelernt, ihr nur kleine Häppchen aus meinem Lebens hinzuwerfen, ihr die äußere Schicht der Zwiebel zu geben, die sie zufrieden annahm, ohne zu merken, dass sie nie zum eigentlichen Kern vordrang. Es war auch Leila gewesen, die mir von Katjas verpatztem Auftritt erzählt hatte.
»Das war die Version meiner Schwester«, erwiderte ich, als sie das nächste Mal in meiner Nähe war. »Was sie über meine Kindheit gesagt hat, stimmt nicht.«
Leila sah mich mitleidig an und wollte gerade etwas sagen, als ein Kunde sich nach den Kalendern für das nächste Jahr erkundigte. Ich zeigte sie ihm, obwohl Büromaterial eigentlich nicht zu meinem Aufgabenbereich gehörte. Aus Angst vor Mithörern verzichtete ich darauf, Kaitsu in der Nachmittagspau-se anzurufen. Ich erinnerte mich nicht an
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