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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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nicht mehr sein werde, müssen diese Gräben wieder geöffnet werden, und andere, die heute noch nicht geboren sind, werden hier stehen und sich den Kopf zerbrechen über die undurchschaubaren Absichten ihrer Vorfahren.
    Lassen Sie das, sagt Kora, die also Gedanken lesen kann, es wundert mich kaum. Grübeln Sie nicht. – Aber, sage ich, wenn man bedenkt, wie alles sich immer wiederholt. – Jetzt werden Sie banal, sagt Kora, solche Wörter benutzt sie also, und übrigens, fügt sie hinzu, für denjenigen, der sie zum erstenmal erlebt, ist jede Wiederholung neu. – Aha. Ich schweige höflich. Sie will mich aufmuntern. Sie ist mir beigegeben, um mich aus der Sackgasse herauszuführen, in der ich anscheinend stecke. Sie scheut auch billige Mittel nicht. Ich stelle sie auf die Probe: Ob sie ein Wort wie Vergeblichkeit kennt. – Sie schnaubt ein wenig durch die Nase: Jeder Arzt kennt dieses Wort, und wie. – Dicht daneben ist auch vorbei, sage ich, und Kora lacht. Ich meine, sage ich, und sie, die all ihre Höflichkeit und all ihre berühmte Einfühlung vergessen hat, unterbricht mich schroff. Sie wisse ganz genau, was ich meine: Jene große, allumfassende Vergeblichkeit, in die man sich so herrlich einlullen, in der man sich so wunderbar wälzen könne. – Jetzt muß ich lachen. Aber wenn es doch stimme? Wenn dies, ganznüchtern betrachtet, die Lebenssumme sei: Vergeblichkeit? – Also hören Sie mal, sagt Kora – wir haben uns aus den Gräben erhoben und schweben die Friedrichstraße hinunter, schwenken Unter den Linden nach links, alles menschenleer, nur ein paar nächtliche Wartburgs irren wie arme Seelen herum in der ausgestorbenen Stadt, die mir auf einmal ausnehmend gut gefällt – hören Sie mal: Das ist jetzt einfach nicht der richtige Zeitpunkt, Ihre Irrtümer zu hätscheln, sagt Kora. Linkerhand fliegt die Universität vorbei, kaum Zeit, den beiden Humboldts zuzuwinken. Das Zeughaus. – Kora, sage ich, das können Sie nicht beurteilen. – Warum nicht, sagt sie. Weil ich jünger bin als Sie? – Auch, sage ich. Und weil Sie meine Ärztin sind. – Also nicht unbefangen? sagt sie. Jetzt wird sie wütend, das hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Dann könne sie ja gehen. Sie entzieht mir ihre Hand. – Nicht doch, sage ich.
    Wir sitzen auf einmal auf den Stufen zum Palast der Republik. Ein Steinhaufen auch er, denke ich, Glas und Beton, gebaut, um unterzugehn. Vielleicht deshalb ist er in dieser Nacht der redlichste Ort in dieser untergehenden Stadt. Metropolis. Metropole der Macht. Metropole von zwei Mächten. Die Stadt, einst heiliger Ort, entweiht. Sie zerfällt vor unseren Augen. Und keine Umkehr aus der neuen Wildnis. Die Gewißheit greift mir ans Herz.
    Kora, sage ich, Sie handeln doch im Auftrag, nicht wahr. Kora sagt, ich sei wirklich verdorben.Sie ist jetzt traurig. Ja, sage ich. Ich bin verdorben, und nun wissen Sie, was ich mit Vergeblichkeit gemeint habe. Wer den Tiger reitet, steigt nicht ab. Und jetzt gehen Sie hin und erzählen Sie Ihrem Chef etwas über mein kaputtes Immunsystem. Fragen Sie ihn, ob er die alten Landkarten kennt, mit ihren vielen weißen Flecken, auf die man kurzerhand schrieb: Hic sunt leones. Fragen Sie ihn, ob er, als er mir ins Fleisch schnitt, als er meine Wunden öffnete, meine faulen Stellen bloßlegte: ob er da auf jene weißen Flecken gestoßen ist, die mir selber unbekannt, die unerforscht und unbenannt sind und über die wilde Tiere herrschen. Fragen Sie ihn, ob er sich vorstellen kann, daß an diesen resistenten Flecken jede Immunabwehr der Welt zuschanden werden muß.
    Wen soll ich was fragen? – Ach, Kora. Wo sind wir. – Wo wir immer sind, meine Liebe, und Sie haben wieder mal Ihr Hemd naßgeschwitzt. – Die Nachtschwester kommt, mit ein paar Griffen haben sie sie umgezogen, beide behaupten, dieser Schweiß rieche schon ganz anders als der frühere. Gesünder, meinen sie. Merken Sie es nicht selbst, sagt Kora. – Immer noch im Auftrag? – Wovon sprechen Sie. – Man soll nicht grübeln? – Nein. Das soll man nicht. Man soll froh sein über alles, was man jetzt endgültig hinter sich hat, und man soll sich entschließen, gesund zu werden. – Entschließen? – Jawohl, sagt Kora mit Nachdruck. Fest entschließen,und man soll von dem Entschluß nicht mehr abweichen. – Na denn. Ihr Wort in Gottes Gehörgang. – Sie lachen. Kora geht.
    Elvira weckt sie. Sie stellt sich auf, mustert das Zimmer, dann die Patientin, zufrieden, scheint der, sie scheppert mit

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