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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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dem Eimer, tritt an ihr Bett, gibt ihr die Hand. Na, sagt sie abschließend. Das war knapp. Da hätten Sie aber leicht einen Abgang machen können, nicht?
    Was soll ich dazu sagen oder denken. Daß man erst weiß, was man zu hören kriegt? Wer nicht hören will, muß fühlen, aber das Fühlen gelingt mir nicht. Dieser eine Satz von Elvira hat einen beträchtlichen Nachhall. Jetzt in Panik zu verfallen wäre ja unsinnig. Elvira hat doch nur gesagt, was ich selbst hätte wissen müssen. Ich kann mich nur wundern, hinter wie vielen Hüllen die Wahrheit sich vor dem schwachen Menschen verbirgt und in welch merkwürdiger Gestalt sie dann, wenn es soweit ist, hervortritt. Sie haben es mich ja längst alle wissen lassen, die Ärzte mit ihren undurchdringlichen Mienen, die Schwestern mit ihrem Gehabe, und, nicht zuletzt, auch du, mein Lieber, mit deiner Maulfaulheit. Aber diese Botschaft habe ich nicht aufnehmen können, etwas in mir hat die Wahrheit gewarnt, sich unverhüllt zu zeigen. Da muß Elvira kommen und herausplatzen mit dem, was sie im Schwesternzimmer und in der Küche aufgeschnappt hat, und dieser rüde nackte Satz kommt an. Er istwahr. Unglücklicherweise. Auch die Panik verspätet, wie alles.
    Wieso eigentlich. Das Unglück ist abgewendet, das Unglücksgefühl kann verschwinden. Statt dessen nimmt es zu, wächst und wächst, bis es mich ganz ausgefüllt hat. Der Zusammenbruch nach überstandener Gefahr, die alte banale Geschichte. Jetzt sitze ich also auf diesem Gaul, der mit mir über den Bodensee geritten ist. Etwas in der Art muß ich zu dem Professor gesagt haben, der bloß schnell gekommen ist, schon in Grün, um sich von Schwester Margot den zufriedenstellenden Bericht über mein Befinden anzuhören. Bodensee? fragt er irritiert und blickt zu Schwester Margot hinüber, die leicht die Schultern anhebt und die Mundwinkel nach unten zieht. – Ach so. Bodensee. Aber wie kommen Sie darauf. – Ist es nicht wahr? – Wahr, wahr, sagt der Professor unwirsch. Ein jeder Mensch hat seine eigene Wahrheit, Sie sollten das doch wissen. – Und die meine kennen Sie? – Allerdings. Die lautet: Sie waren krank, sehr krank, und jetzt sind Sie durch. Sie haben es geschafft. Es geht bergauf. Und alles andere ist dummes Zeug.
    Ich werde meinen Professor nicht dazu bringen, Wörter wie »Tod« und »Sterben« auszusprechen, die mir durch den Kopf geistern, während Schwester Margot und Schwester Thea mich waschen, mein Bett machen und dabei unaufhörlich mit mir reden, über muntere Themen, sogar über SchwesterMargots vergebliche Versuche, abzunehmen, sehr passend, sage ich, am Bett einer Hungerkünstlerin, sie lachen, heute nehmen sie alles auf die leichte Schulter, auf Anweisung, das ist mir klar, und sie wissen, daß ich es weiß. Ich kann mir vorstellen, wie der Professor, als sie auf dem Flur standen, zu Margot gesagt hat: Sorgen Sie bloß dafür, daß sie uns jetzt nicht noch wegsackt, seien Sie so freundlich. Ich rufe Schwester Thea hinterher: He, im Krankenhaus spricht man wohl nicht vom Tod. Sie dreht sich um, blickt mich voll an und sagt: Nein.
    Nun weißt du es, sagt jemand triumphierend in mir. Aber ich will es nicht wissen. Will ich überhaupt diese Anstrengung auf mich nehmen, zurückzukommen, mich Schritt für Schritt mühsam wieder zu entfernen von jener Pforte, vor die mich eine Flut, an die ich mich gerade noch erinnere, ohne mein Zutun gespült hat. Noch weiß ich, bald werde ich sie vergessen, die Augenblicke, da ein kleines Einverständnis, ein winziges Nachgeben genügt hätten, mich durch diese Pforte für immer hindurchzuschwemmen. Für immer weg zu sein, ohne Bedauern. Den Augenblick habe ich verpaßt. Warum nur habe ich dieses Einverständnis verweigert. Jetzt bin ich müde. Gleich werde ich mich wieder dem Schlaf überlassen. Habe ich mir nicht früher einmal vorgenommen, dankbar zu sein, wenn ich lange genug von dem Getöse verschont geblieben bin? Ich versuche, dankbar zu sein, aber ich weiß nicht, wieman das macht. Das kommt schon wieder, sagt eine Stimme in tröstendem Ton in meinen Schlaf hinein. Das kommt alles wieder. Das Segelschiff, mit dem ich dann über einen schön belebten See fahre, trägt den Namen Esperanza.
    Na, denke ich beim Aufwachen, leicht belustigt, so faustdick hätte es ja nicht gleich kommen müssen. Da stehst du da und willst über nichts anderes reden als über meine Mittagstemperatur, die moderat gewesen ist, und über die Zufriedenheit des Professors mit meinem

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