Leibniz war kein Butterkeks
gehört …
Wahrscheinlich stammt dieser Ausspruch nicht direkt von Voltaire, aber er zeigt sehr schön, worum es bei dem aufklärerischen Toleranzgedanken geht: um die Auffassung, dass man fremde Überzeugungen und Handlungsweisen auch dann noch ertragen muss, wenn sie den eigenen Ansichten völlig zuwiderlaufen . Dies war nach den vielen Jahrhunderten der Ketzerverfolgungen ein wirklich revolutionärer Gedanke in Europa – und um seine politische Durchsetzung wurde entsprechend erbittert gekämpft. In diesem Zusammenhang spielte übrigens die Reformation eine große Rolle: Zwar war Martin Luther selbst alles andere als eine Ausgeburt von Toleranz, wie u. a. seine schrecklichen Angriffe gegen Juden, »Hexen«, »Ketzer« und aufständische Bauern zeigen, aber seine Infragestellung der absoluten Wahrheits- und Geltungsansprüche des katholischen Klerus verlieh der Frage nach der Toleranz eine neue politische Dimension. Denn plötzlich gab es statt der einen Mutterkirche zwei große christliche Konfessionen: Katholiken und Protestanten. Wie du sicherlich weißt, führten die Spannungen zwischen den beiden Konfessionen sehr bald zu heftigen kriegerischen Auseinandersetzungen, die 1555 für kurze Zeit durch den »Augsburger Religionsfrieden« beendet wurden. Damals handelten die katholischen und protestantischen Fürsten eine berühmte Kompromissformel aus: »Cuius regio, eius religio«. Wer das Land regiert, soll auch über den Glauben bestimmen. Hierin zeigt sich eine erste, rudimentäre Fassung von Toleranz: Die Fürsten duldeten zwar noch nicht die Glaubensfreiheit ihrer Untertanen, aber immerhin versprachen sie untereinander, die unterschiedlichen Glaubensauffassungen zu tolerieren.
Wenn ich im Geschichtsunterricht nicht völlig gepennt habe, hat dieser Religionsfriede aber nicht sonderlich lange gehalten …
Nein, leider nicht. 1618 brach der Dreißigjährige Krieg aus, in dessen Folge etwa drei bis vier Millionen Menschen starben, etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung! Im »Westfälischen Frieden« von 1641, der dieses grausige Abschlachten beendete, wurde neben der katholischen und der lutherisch-protestantischen Konfession auch noch die reformiert-protestantische (auf Ulrich Zwingli und Johannes Calvin zurückgehende) Konfession als gleichberechtigt anerkannt. Somit hatten die Fürsten noch mehr Gelegenheit, Toleranz zu üben. Das Gleiche galt auch für die Bevölkerung in den Reichsstädten, in denen verschiedene Konfessionen nebeneinander existierten. Auf diesem städtischen Nährboden einer zunehmenden kulturellen Vielfalt entwickelte sich später auch der Toleranzgedanke der Aufklärung, den der preußische König Friedrich der Große 1740 auf die schöne Formel brachte, jeder solle »nach seiner Façon selig werden«.
Konnte man das denn schon im Jahre 1740? Konnte jeder »nach seiner Façon selig werden« ?
Natürlich nicht! Dafür brauchte es noch mehr als zwei Jahrhunderte. Im Grunde haben wir in Europa erst Ende des 20. Jahrhunderts, etwa zum Zeitpunkt deiner Geburt, annähernd den Grad an gesellschaftlicher Toleranz erreicht, der das ermöglicht. Erinnere dich daran, was ich über die Schwulenverfolgung in der Bundesrepublik Deutschland erzählt habe: Obwohl das Land im internationalen Vergleich durchaus liberal war, wurden bis in die späten 1960er-Jahre 100 000 Strafverfahren gegen Homosexuelle angestrengt. Noch in den 1980er-Jahren hätte das wunderbare Statement des Berliner Bürgermeisters Klaus Wowereit »Ich bin schwul – und das ist auch gut so!« das Toleranzvermögen der deutschen Bundesbürger völlig überfordert.
Verrückt! Das kann man sich gar nicht mehr vorstellen! Hmmm … Bislang hast du, wenn ich mich nicht irre, ein einziges Loblied auf die Toleranz gesungen. Aber als ich dich eben fragte, ob wir toleranter werden sollten, hast du mit »Ja und Nein« geantwortet.
Stimmt! Das hat zwei Gründe: Manchmal ist Toleranz nämlich nicht genug – und manchmal geht sie sogar zu weit.
Was meinst du denn damit?
Lass mich mit dem ersten Fall beginnen: Johann Wolfgang von Goethe schrieb einmal: »Toleranz sollte nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.«
Verstehe ich nicht! Warum sollte es denn eine Beleidigung sein, wenn ich irgendetwas dulde?
Weil du dadurch, dass du etwas bloß duldest , zu erkennen gibst, dass es für dich eine Last ist, dies zu tun. Worauf Goethe hinauswollte, war, wie ich meine, der
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