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Leiche in Sicht

Leiche in Sicht

Titel: Leiche in Sicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Livingston
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sich bewegen wie ein Vogel. Das
Mädchen befestigte mit doppeltem Knoten ein Seil am Gurtwerk. Das andere Ende
des Seils verschwand im Fährboot oder was er dafür gehalten hatte. Denn jetzt
wurde ihm klar, daß es sich bei dem Boot nicht um eine Fähre handelte, sondern
um das Schnellboot, das er gestern in der Bucht hatte herumrasen sehen. Wo
hatte er bloß seine Augen gehabt? Das Mädchen bemühte sich, ihm etwas zu
erklären.
    «Zurücklehnen, vom Boot nach vorn
ziehen lassen. Drei Sprünge. Okay?» Sie machte es vor, und er starrte
fasziniert auf ihre wippenden Brüste. Über den Lärm des Bootsmotors hinweg rief
sie ihm zu: «Welches Ihr Boot? Sie da drüben?» Sie deutete auf eine Yacht von
der Größe der Britannia, die etwas weiter draußen in der Bucht ankerte.
Wenn sie doch bloß den Motor abstellen würde, dachte er. Er hatte das Gefühl,
als platze ihm der Schädel.
    «Nein, dort», brüllte er zurück, «im
Hafen.» Das Mädchen nickte und deutete lächelnd auf das Schnellboot. «Er Sie
fallen lassen im Wasser bei den Felsen, dann Freunde von Flottille Sie sehen.
Okay?»
    «Nein!» schrie er, so laut er konnte.
«Auf gar keinen Fall, hören Sie!» Er hatte schließlich gestern mit eigenen
Augen gesehen, wie die Felsen sich dort unter Wasser als Riff fortsetzten.
    Das Boot raste los wie eine Rakete.
Seine Füße berührten zweimal kurz den Boden, dann wurde er von der Plattform
gezogen und, ohne daß auch nur eine seiner Zehen mit Wasser benetzt worden
wäre, in die Luft gehoben. Hoch, höher und immer höher! Der weiß-gelbe
Baldachin des Fallschirms füllte sich. Er war Tausende von Metern hoch und
schwebte unter einer weißgelben Wolke!
    Nein! Er war zwanzig Meter hoch und
hing an einem dünnen Seil!
    Wenn er nun mit irgend etwas
zusammenstieß? Ängstlich blickte er sich um, ob irgendwelche Vögel in der Nähe waren,
und ließ dabei das Seil los, das er bisher krampfhaft umklammert gehalten hatte
— er fiel nicht! Er konnte fliegen! Der Fallschirm hielt ihn in der Luft! Die
Arme über die Bucht gebreitet, trällerte Mr. Pringle in dünnem Bariton:
    «Ach, was soll ich Hüte tragen,
    Stiefel, Gamaschen, Hemden mit
Kragen...»
    Das Schnellboot fuhr eine Kurve, um der Britannia auszuweichen. Mr. Pringle hörte unvermittelt zu singen auf.
Die Füße vor Schreck angezogen, starrte er auf das Sonnendeck unter sich. Dort
lag eine Frau. Daß es sich um eine Frau handelte, war ganz deutlich, denn sie
war nackt, trug nicht einmal eine Perlenkette. «Hallo!» rief er und winkte.
Neugierig auf ihre Reaktion, versuchte er, sich im Gurtwerk umzudrehen, und
hätte sich dabei fast kastriert. Doch die Anstrengung hatte sich gelohnt! Sie
winkte zurück! Wenn er das Mavis erzählte, würde sie staunen.
    Das Schnellboot fuhr einen weiten
Bogen, und die Festungsruine auf dem Hügel kam in Sicht. Mr. Pringle legte sich
schräg wie ein Flugzeug im Zielanflug. «Brrm, brrm, brrm!» machte er und
richtete die Bordwaffen auf die Torwachen. «Rat-atat-tat!» Er grinste
befriedigt. Soviel Spaß wie heute hatte er lange nicht mehr gehabt, vielleicht
zuletzt an jenem Tag vor fünfzig Jahren, als er mit seinem Vater einen Ausflug
nach Burnham on Crouch unternommen hatte.
    Unter ihm glitt die Plattform vorbei,
dann das Strandrestaurant. Sie näherten sich dem Hafen. Einen Moment
lang verspürte er so etwas wie Panik. Gleich würden sie ihn ins Wasser fallen
lassen. Dann fiel ihm wieder ein, daß das ja erst bei der zweiten Runde fällig
war, und er schob den Gedanken fürs erste beiseite. Die Bootsdecks der
Flottille waren noch leer, nur zwei, drei winzige Pünktchen schauten zu ihm
empor, als er vorüberschwebte. Er wollte rufen, aber da lag die Flottille schon
hinter ihm. Sie waren jetzt an der Stelle, wo er gestern zum Schnorcheln
gewesen war. Plötzlich schien alles in ihm zu erstarren. Dort unten trieb, mit
dem Gesicht im Wasser, das Kleid um sich gebläht, eine Frau.
    Mr. Pringle schrie, bis er heiser war.
Erst allmählich dämmerte ihm, daß man ihn nicht hören konnte — genausowenig,
wie er sie hörte. Ein zweites Mal glitt der Strand vorbei, dann der Flafen. Es
waren jetzt mehr Leute an Deck als beim erstenmal, und etliche sahen zu ihm empor,
als sein Schatten sie streifte. Doch diesmal machte er keine Anstalten zu
winken. Wie leblos hing er im Gurtwerk. Er fürchtete sich vor dem, was auf ihn
zukam.
    Der Motor tourte niedriger. Der junge
Mann am Steuer des Schnellbootes blickte sich über die Schulter nach ihm um,

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