Leiche in Sicht
befand sich am Ende seiner Kräfte. Im Wohnzimmer sank
er zu Boden und blieb eine Weile erschöpft liegen. Schließlich raffte er sich
auf, schlich langsam, noch immer am ganzen Körper zitternd, in die Küche und
goß sich einen Cognac ein. Allmählich hörte das Zittern auf. Er ging zurück ins
Wohnzimmer, griff nach seinem Notizbuch und begann zu arbeiten. Mavis’
Ankündigung, sie werde erst wieder für ihn dasein, wenn er den Fall gelöst
hätte, war ernst zu nehmen. Eine neue Lysistrata, dachte er nicht ohne Stolz.
Der Gedanke an die übliche Erfolgsquote bei der Aufklärung von
Kapitalverbrechen ließ ihn allerdings aufseufzen. Er würde sich anstrengen
müssen. Aber die Mühe lohnte. In seinem Alter noch eine späte Leidenschaft
erleben zu dürfen, war ein großes Glück, für das es zu kämpfen lohnte.
Er arbeitete bis spät in die Nacht und
war frühmorgens erneut am Schreibtisch. Matthew würde ihm eine Menge Fragen zu
beantworten haben. Flüchtig dachte er daran, daß die Polizei doch eigentlich
Interesse daran haben mußte, was er inzwischen erfahren hatte, aber der Beamte,
der ihn gestern aufgesucht hatte, hatte sich nicht wieder bei ihm gemeldet. Er
wollte gerade Matthews Nummer anwählen, als sein Telefon klingelte. Es war
Charlotte Fairchild.
«Ist Matthew schon bei Ihnen? Ich habe
gerade mit seiner Mutter gesprochen, sie meinte, daß er wahrscheinlich auf dem
Weg zu Ihnen sei.»
«Hoffentlich. Ich möchte ihm etliche
Fragen stellen. Soll ich ihm, wenn er kommt, etwas ausrichten? Soll er Sie
vielleicht zurückrufen?» Charlotte zögerte.
«Die Polizei war hier und hat eine
Menge Fragen gestellt.»
«Ja, sie kommt zu allen.»
«Das schlimme ist, daß ich das Gefühl
habe, als glaubten sie mir nicht.»
«Oh.»
«Aber alles, was ich gesagt habe,
stimmt!»
«Natürlich.» Erwartete.
«Dürfte ich vielleicht bei Ihnen
vorbeikommen?» bat sie.
In Windeseile räumte er das Wohnzimmer
auf, kochte Kaffee und öffnete eine Flasche Sherry. Dann überlegte er, wo das
neue Bild — es war noch nicht gerahmt, sondern stand noch auf seiner Staffelei
— wohl am besten zur Geltung kommen würde. Doch derartige Überlegungen hätte er
sich sparen können. Charlotte verwandte keinen Blick auf ihre Umgebung. Sie
durchquerte das Wohnzimmer, stellte sich mit dem Rücken zu ihm ans Fenster und
starrte hinaus.
«Wissen Sie, wo er ist?» fragte sie.
«Wer? Matthew? Tut mir leid, nein. Aber
vielleicht kommt er ja noch.» Charlotte schien sich ihrer Erziehung zu erinnern
und wandte sich um. Ihr Blick fiel auf das Bild. Doch die karge nördliche
Szenerie gefiel ihr nicht. Krampfhaft suchte sie nach Worten.
«Sieht anders aus als in Griechenland.»
«Ja, ich glaube auch kaum, daß der
Künstler jemals dort gewesen ist.»
«Ich wollte, wir wären auch nie dort
gewesen», sagte sie heftig. Sie war in ihrer vollkommenen Schönheit und Anmut
in seinem schäbigen Wohnzimmer eine solche Augenweide, daß er zunächst gar
nicht bemerkt hatte, wie unruhig und nervös sie war. Doch jetzt sah er, daß
ihre Züge bis zum äußersten angespannt waren. Als ob sie kurz vor dem
Zusammenbruch steht, dachte er. Er hätte ihr gern geholfen, aber er wußte
nicht, wie. «Geht es Em besser? Sind ihre Verletzungen wieder verheilt?»
«Oh, Em geht es gut. Aber sie tut auch
so, als ob sie mir nicht glaubt. Genau wie Pa und Ma. Sie behandeln mich, als
dächten sie, daß ich jeden Augenblick überschnappen könnte oder so etwas. Sie
hören mir zu, und dann tauschen sie untereinander Blicke aus. Sie machen mir
angst! Übrigens — hätten Sie vielleicht einen Wodka für mich?»
«Nein, tut mir leid.» Betrübt
betrachtete er das bereitgestellte Tablett. Er hatte sich eingebildet, an alles
gedacht zu haben, er hatte sogar den Sherry in eine Karaffe umgefüllt.
Widerstrebend akzeptierte sie ein Glas.
«Sie nehmen alle an, daß ich Liz
gesehen haben mußte, aber ich habe sie wirklich nicht gesehen — nur Gill.»
«Erzählen Sie mir doch einmal, wie Sie
den Abend verbracht haben. Vor dem Barbecue, meine ich. Sind Sie und Em
zusammen hingegangen?»
«Nein. Em wurde, glaube ich, von John
abgeholt. Sie hatte ja versprochen, ihm an der Bar zu helfen. Ich wurde nicht
gebraucht, und deshalb habe ich noch am Strand einen Spaziergang gemacht.»
«Haben Sie Matthew getroffen? Ich habe
gehört, daß er und Elizabeth ebenfalls noch am Strand waren. Sie haben im Strandcafé noch ein paar Drinks genommen.» Charlotte wurde rot.
«Ich habe nach ihm
Weitere Kostenlose Bücher