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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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erneut versuchte. Dieses Mal war die Leitung frei. Mein Puls beschleunigte sich, während ich wartete, dass jemand
     ranging.
    Aber niemand meldete sich. Es klingelte und klingelte mit monotoner Regelmäßigkeit, bis ich mich schließlich damit abfand,
     dass niemand den Anruf entgegennehmen würde.
    Es konnte vielerlei Gründe dafür geben, warum die Leitung erst besetzt war und sich kurz darauf niemand meldete. Der Teilnehmer
     am anderen Ende war vielleicht aus dem Haus gegangen oder hatte beschlossen, die unbekannte Nummer zu ignorieren. Darüber
     zu spekulieren war sinnlos.
    Doch als ich in den anderen Autopsiesaal ging, wusste ich, dass ich erst Ruhe haben würde, wenn ich es herausgefunden hatte.
     
    Den Rest des Tages war ich zu beschäftigt, um auch nur daran zu denken, die Nummer erneut anzurufen. Die Überreste von Steeple
     Hill mussten gereinigt werden, aber das war eine relativ unkomplizierte Aufgabe. Aasfresser und Insekten hatten die Knochen
     bereits restlos vom Gewebe befreit, |240| sodass sie nur noch in Lösungsmittel eingelegt werden mussten.
    Doch ich hatte sie kaum in die Fässer gelegt, als die medizinischen Unterlagen von Noah Harper und Willis Dexter in die Leichenhalle
     geliefert wurden. Da ich wusste, dass Gardner so schnell wie möglich eine Bestätigung ihrer Identitäten haben wollte, überließ
     ich die restliche Reinigung und Trocknung der Knochen Summer und widmete mich ebendieser Aufgabe.
    Die Identifikation von Dexter erwies sich als problemlos. Die Röntgenaufnahmen des im Wald gefundenen Schädels, die wir am
     Morgen angefertigt hatten, zeigten Frakturen auf, die sich mit jenen deckten, die auf den Röntgenbildern zu sehen waren, die
     bei der Obduktion des Schlossers gemacht worden waren. Was wir bereits vermutet hatten, war nun offiziell: Willis Dexter konnte
     nicht der Mörder sein. Er war vor sechs Monaten bei einem Autounfall gestorben.
    Blieb nur die Frage, wessen Leiche in seinem Grab gelegen hatte.
    Es schien wenig Zweifel zu geben, dass es diejenige von Noah Harper war, wir benötigten jedoch mehr als oberflächliche Ähnlichkeiten,
     um Gewissheit zu haben. Anders als bei Dexter gab es weder einen Obduktionsbericht noch zahnärztliche Unterlagen, um die Identifizierung
     zu erleichtern. Die abgenutzten Hüft- und Fußgelenke, die ich bei der Leiche aus dem Sarg entdeckt hatte, hätten zwar Harpers
     charakteristisches Hinken erklären können, aber seine Akten enthielten keine diesbezüglichen Röntgenaufnahmen. Den Luxus von
     Krankenversicherung und Zahnpflege hatte sich der Kleinganove offenbar nicht leisten können.
    Am Ende identifizierten Harper die Brüche des Oberarmbeins und Oberschenkelknochens, die er sich in der Kindheit |241| zugezogen hatte. Diese waren immerhin geröntgt worden, und obwohl das Skelett des erwachsenen Mannes alt und abgenutzt war,
     konnte man die längst verheilten Bruchstellen noch gut erkennen.
    Nachdem ich die Identitäten der beiden Skelette zu meiner Zufriedenheit verifiziert hatte, war es bereits spät geworden. Summer
     war ein paar Stunden zuvor gegangen, und Paul hatte mir telefonisch mitgeteilt, dass seine Besprechungen länger dauerten als
     angenommen und er es danach nicht mehr schaffen würde, zurück in die Leichenhalle zu kommen. Anscheinend wusste er, was wirklich
     wichtig war, und ging lieber nach Hause zu seiner schwangeren Frau, anstatt sich die Nacht um die Ohren zu schlagen.
Kluger Mann.
    Ich hätte gern weitergearbeitet, aber es war ein sowohl emotional als auch körperlich anstrengender Tag gewesen. Zudem hatte
     ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Sosehr ich auch gewollt hätte, in dieser Verfassung wäre ich kaum weitergekommen.
    Während ich mich umzog, rief ich Mary an, um mich nach Tom zu erkundigen, doch ihr Telefon war ausgeschaltet. Wahrscheinlich
     war sie noch immer bei ihm. Als ich direkt auf der Intensivstation anrief, sagte mir eine höfliche Krankenschwester, dass
     sein Zustand stabil wäre. Es gab also keine Veränderung. Gerade als ich mein Handy wegstecken wollte, erinnerte ich mich an
     die Nummer, die ich Toms Telefon entnommen hatte.
    Bis zu diesem Moment hatte ich sie völlig vergessen. Während ich das Leichenschauhaus verließ und dem älteren Schwarzen, der
     jetzt am Empfang saß, gute Nacht wünschte, wählte ich die Nummer erneut.
    Die Leitung war besetzt.
    Immerhin war jemand zu Hause. Ich schob die schwere |242| Glastür auf und trat hinaus. Die Dämmerung legte sich

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