Leichenblässe
Klingelton?»
Tom wären ein paar deftige Worte eingefallen, wenn er gehört hätte, dass man Dave Brubecks
Take Five
«kitschig» nannte. Aber ich nickte nur.
«Ich habe nicht weiter darauf geachtet, aber dann gab es plötzlich ein Krachen im Autopsiesaal. Ich bin reingelaufen und habe
ihn am Boden liegen sehen.» Sie schniefte und rieb |237| sich schnell die Augen. «Ich habe den Notruf gewählt und dann seine Hand gehalten und ihm gut zugeredet, bis die Sanitäter
kamen. Ich hab ihm gesagt, dass alles gut wird, wissen Sie? Ich bin mir nicht sicher, ob er mich hören konnte, aber das macht
man doch in so einem Fall, oder?»
«Das haben Sie richtig gemacht», versicherte ich ihr. «War er bei Bewusstsein?»
«Nicht richtig, aber er war völlig durcheinander. Er hat immer wieder den Namen seiner Frau gesagt, als hätte er Angst um
sie. Ich dachte, er wollte vielleicht nicht, dass sie einen Schock kriegt, wenn sie erfährt, was geschehen ist, deshalb habe
ich ihm gesagt, dass ich sie anrufe. Ich dachte, das ist besser, als wenn sie es vom Krankenhaus erfährt.»
«Ich bin mir sicher, dass Mary es zu schätzen wusste», sagte ich, obwohl mir klar war, dass man solche Nachrichten nie gern
hört, egal, wer sie überbrachte.
Summer schniefte erneut und putzte sich die Nase. Ein paar Strähnen ihres gebleichten Haars hatten sich gelöst und hingen
herab, wodurch sie jünger wirkte, als sie war.
«Ich habe seine Brille und sein Handy in den Schrank über der Arbeitsplatte in Ihrem Autopsiesaal gelegt. Ich hoffe, das ist
in Ordnung. Sie lagen dort auf dem Boden, und ich wusste nicht, was ich sonst damit machen soll.»
Ich wollte gerade sagen, ich würde dafür sorgen, dass Mary die Sachen erhielt, doch dann machte mich etwas an ihren Worten
stutzig. «Sie meinen, Brille und Handy lagen auf dem Boden meines Autopsiesaales?»
«Ja. Habe ich das nicht erzählt? Dr. Lieberman ist dort zusammengebrochen.»
«Was hat er dort gemacht?» Ich hatte angenommen, dass Tom in seinem Autopsiesaal gewesen war, als er den Herzanfall gehabt
hatte.
|238| «Keine Ahnung. Ist das wichtig?»
Ich beruhigte sie, dass es nicht so wichtig wäre. Trotzdem verwirrte es mich. Tom hatte das Skelett von Terry Loomis rekonstruiert.
Warum sollte er die Arbeit unterbrochen haben, um nach den exhumierten Überresten zu sehen?
Die Frage beschäftigte mich, als wir den Schädel und die Knochen vom Friedhof zum Röntgen brachten, es verging aber noch eine
weitere Stunde, ehe ich die Gelegenheit hatte, ihr nachzugehen. Ich ließ Summer allein, damit sie mit der Säuberung der Überreste
beginnen konnte, und ging in den Autopsiesaal, in dem Tom zusammengebrochen war.
Der Raum sah genau so aus, wie ich ihn verlassen hatte. Nur der Schädel und die größeren Knochen lagen auf dem Untersuchungstisch,
während der Rest in Plastikboxen darauf wartete, an die Reihe zu kommen. Ich stand eine Weile da und versuchte herauszufinden,
ob etwas bewegt oder verändert worden war. Aber wenn das geschehen sein sollte, dann konnte ich es nicht finden.
Ich ging zu dem Schrank, in den Summer Toms Brille und Handy gelegt hatte. Die Brille sah ohne ihren Träger vertraut und zugleich
traurig verlassen aus. Vielleicht übertrug ich aber nur meine Gefühle auf sie.
Ich steckte sie in meine Brusttasche und wollte gerade das Gleiche mit dem Telefon tun, als mir ein Gedanke kam. Ich hielt
inne und überlegte, ob ich mit dem, was ich vorhatte, zu sehr die Privatsphäre verletzte.
Kommt darauf an, was du entdeckst.
Das Handy war über Nacht eingeschaltet gewesen, der Akku hatte aber noch genügend Kapazität. Es dauerte nicht lange, bis ich
im Menü die Liste der eingehenden Anrufe gefunden hatte. Der letzte war um 22:16 Uhr am Abend zuvor eingegangen, genau wie Summer gesagt hatte.
|239| Zur gleichen Zeit, als Tom den Herzanfall gehabt hatte.
Ich sagte mir, dass es ein Zufall sein könnte und die beiden Vorfälle nichts miteinander zu tun haben mussten. Doch es gab
nur eine Möglichkeit, um das herauszufinden.
Der Anruf war von einer Festnetznummer mit der Vorwahl von Knoxville gekommen. Aus Vorsicht benutzte ich nicht Toms Telefon,
sondern tippte sie in die Tastatur meines Handys. Trotzdem zögerte ich.
Versuch es einfach. Was hast
du zu verlieren?
Ich drückte die Wähltaste.
Nach einer kurzen Pause ertönte in meinem Ohr das Besetztzeichen. Enttäuscht brach ich den Anruf ab und wartete einen Augenblick,
ehe ich es
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