Leichenblässe
Leica liegt. Du hattest
angefangen, sie zu reinigen, doch selbst diese Freude hat
sich in Luft aufgelöst. Du lässt dich auf den Stuhl fallen und
betrachtest die Einzelteile. Lustlos nimmst du das Objektiv
und drehst es in der Hand.
Da kommt dir wie aus dem Nichts die Idee.
Während sie Formen annimmt, wächst die Aufregung in
dir. Wie konntest du etwas so Offensichtliches übersehen? Es
war da und hat dich die ganze Zeit angestarrt! Du hättest
niemals vergessen dürfen, dass du ein höheres Ziel verfolgst.
Du hast das wirklich Wichtige aus den Augen verloren und
dich ablenken lassen. Lieberman war eine Sackgasse, aber
eine notwendige.
Denn wenn die Sache nicht schiefgegangen wäre, hättest
du vielleicht nicht erkannt, welche seltene Gelegenheit dir
geboten wurde.
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Als du darüber nachdenkst, was getan werden muss, fühlst
du dich wieder stärker und mächtiger. Das ist es, du kannst es
spüren. Alles, wofür du gearbeitet hast, jede Enttäuschung,
die du erlitten hast, hatte einen Grund. Das Schicksal hat dir
bereits einmal eine sterbende Frau vor die Füße gespült, und
jetzt schaltete sich das Schicksal erneut ein.
Melodielos vor dich hin pfeifend, beginnst du, die Uniform
auszuziehen. Du hast sie die ganze Nacht angehabt. Jetzt ist
zwar keine Zeit, um sie in die Reinigung zu bringen, aber du
kannst sie mit einem feuchten Lappen säubern und bügeln.
Sie wird picobello aussehen müssen.
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|232| KAPITEL 14
An der Anmeldung des Leichenschauhauses hatte wieder der übergewichtige Mann Dienst. «Haben Sie schon gehört, was Dr. Lieberman passiert ist?», fragte er mich. Erneut fiel mir auf, wie schrecklich unpassend seine hohe, piepsige Stimme für seine
massige Statur war. Er sah enttäuscht aus, als ich sagte, dass ich Bescheid wüsste, und schüttelte den Kopf, sodass sein Doppelkinn
wackelte wie Pudding. «Es ist wirklich ein Jammer. Ich hoffe, es geht ihm gut.» Ich nickte nur, zog dann meine Karte durch
den Schlitz an der Tür und ging hinein.
Da ich nicht wusste, ob ich bleiben würde, machte ich mir nicht die Mühe, mich umzuziehen.
Paul war in dem Autopsiesaal, in dem Tom gearbeitet hatte. Er brütete über einem aufgeschlagenen Ordner, schaute aber auf,
als ich eintrat.
«Wie ging’s ihm?»
«Unverändert.»
Er deutete erschöpft auf den Ordner. In dem hellen Neonlicht konnte man die dunklen Ringe unter seinen Augen sehen. «Ich bin
gerade Toms Notizen durchgegangen. Ein paar Fakten des Falls sind mir bekannt, aber es wäre hilfreich, wenn du mich auf den
letzten Stand bringen würdest.»
Paul hörte schweigend zu, als ich ihm erzählte, warum die auf dem Friedhof entdeckte Leiche mit ziemlicher Sicherheit die
von Willis Dexter und die aus Dexters Grab exhumierten |233| Überreste höchstwahrscheinlich die des Kleinganoven Noah Harper waren. Ich beschrieb die rosaroten Zähne, die wir sowohl bei
Harpers Leiche als auch bei der von Terry Loomis entdeckt hatten, dem in der Berghütte gefundenen Opfer, und wie diese Symptome
dem Blutverlust und den Wunden des Letzteren zu widersprechen schienen. Als ich ihm sagte, dass die Zungenbeine beider Opfer
unversehrt waren und dass wir bisher keine Anzeichen für Messerschnitte in den Knochen selbst entdeckt hatten, grinste er
mich müde an.
«Klassische Entweder-oder-Situation. Die Todesursache ist entweder Erdrosselung oder Erstechen, beides zusammen geht nicht.
Wir können nur hoffen, für die eine oder andere Möglichkeit definitive Beweise zu finden.» Für einen Moment schaute er hinab
auf den Ordner, dann schien er sich einen Ruck zu geben. «Und, bist du bereit, weiterzumachen?»
Auf diese Frage hatte ich seit gestern gewartet, aufgrund der neuen Umstände erfreute sie mich jedoch nicht mehr. «Ja, aber
ich möchte keine weiteren Spannungen verursachen. Wäre es nicht besser, wenn jemand anders die Arbeit übernimmt?»
Paul schlug den Ordner zu. «Ich frage dich nicht aus Höflichkeit. Da Tom im Krankenhaus ist, sind die Kapazitäten des Instituts
ziemlich erschöpft. Ich werde hier tun, was ich kann, aber die nächsten Tage werden hektisch. Ehrlich gesagt, brauchen wir
unbedingt Hilfe, und es wäre dumm, nicht jemanden zu fragen, der von Anfang an in die Sache involviert war.»
«Und was sagt Gardner dazu?»
«Das hier ist eine Leichenhalle und kein Tatort. Es ist nicht seine Entscheidung. Wenn er unsere Mitarbeit will, dann muss
er entweder unsere Entscheidung hinnehmen oder sich
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