Leichendieb
Äther. Es wurde ein Haufen Dinge erzählt. Dass die unbewohnte, dünn bewaldete Gegend das Durchkämmen erleichterte und dass der Pilot in den kommenden Stunden gefunden werden würde. Der Pilot sei Träger des schwarzen Judogürtels. Er sei körperlich ausgezeichnet in Form gewesen. Habe das letzte Reitturnier von Rio de Janeiro gewonnen. Reiche Familie. Das wiederholten sie häufig, den Reichtum. Das ganze Geld, dachte ich, es kann nicht verhindern, dass man so endet. Im Sumpf. Sie berichteten auch, dass Júnior ein allseits beliebter junger Mann sei. Gutaussehend. Ein guter Junge. Nur dass er seine Nase gerne in Schnee steckte, das sagten sienicht. Es ist unglaublich, wie ein Unglück ausreicht, einen gewöhnlichen Menschen in einen Helden zu verwandeln.
Noch am selben Tag, etwas später, sah ich sie dann zum ersten Mal. Dona Lu, so wurde sie von allen genannt. Lu, von Lourdes.
Sie war keine fünfzig Jahre alt, kompakt und schien aus einem leicht zerbrechlichen Material gemacht zu sein. Eine Art Mensch, wie ich ihn, wenn ich es mir aussuchen könnte, dafür bezahlen würde, dass er in meiner Mannschaft spielt. Sie schaute einem freimütig und auf eine sehr weibliche Art ins Gesicht, wenn sie mit einem sprach, ich komme mit solchen Menschen nicht klar. Bestimmte Kombinationen, Reichtum und Güte, Schönheit und Güte, Reichtum und Schönheit oder auch nur Güte oder Schönheit im Reinformat sind höchst zerstörerisch. Machen einen fertig. Man wird zu Staub degradiert, das ist es.
Dona Lu postierte sich neben dem Wagen, in Erwartung, dass ich ihr die Tür aufmachte. Sofort breitete sich ein sanfter Duft nach reicher Frau aus. Es dauerte, ehe ich begriff, dass auch das zu meinen Aufgaben gehörte. Türen zu öffnen.
Sie bat mich, sie in die Kirche zu fahren. Unterwegs stellte sie mir einige Fragen, ob ich verheiratet sei, ob ich Kinder hätte, Familie, ob mir Corumbá gefalle. Sie sagte, ich hätte ihrer Familie Glück gebracht. Die Polizei glaube, dass ihr Sohn noch am Leben sei. Sie selbst sei sich dessen gewiss. Sie werden ihn mögen, sagte sie.
Sie fragte mich auch, ob ich religiös sei. Mir fiel ein, dass ich irgendwo gelesen hatte, die Leute würden Stars dem Weihnachtsmann vorziehen. Schauspielerinnen sind meiner Ansicht nach interessanter als Heilige. Vor die Wahl zwischenMadonna und der Jungfrau Maria gestellt, hielt ich mich lieber an Madonna, doch so etwas kann man in einer Umfrage sagen, aber nicht zu Dona Lu.
In der Kirche war kein Mensch. Nur die Kühle, das Halbdunkel und sie, kniend und betend. Mitleid überkam mich, der Wunsch, den Weg, den sie zurückzulegen hätte, abzukürzen. Wenn ich ihr erzählte, dass der Junge tot war, wenn ich sie hinführte und ihr die Leiche zeigte und sie sie beerdigen könnte, wie es sich gehörte, mit Totenwache und Blumen, wenn sie am Sarg weinte, dann müsste sie nicht so lange schmoren wie meine Mutter. Der nackte Tod ist nicht das Schlimmste. Schlimmer ist die Ungewissheit. Der Zweifel. Sie sind es, die einen fertigmachen.
Schweigend fuhren wir nach Hause, aber im Rückspiegel konnte ich sehen, dass Dona Lu weinte.
Das ging mir an die Nieren. Ich musste an meine Mutter denken, wie sie weinte und die Tränen auf den steif geschlagenen Eischnee tropften. Ich dachte an die vielen glücklichen Bräute, die an ihrem Hochzeitstag die Tränentorte meiner Mutter gegessen hatten.
Abends fuhr ich zum Kommissariat, um Sulamita zu treffen. Es gab eine Abschiedsparty, es war ihr letzter Arbeitstag. Am darauffolgenden Tag würde sie ins Institut für Rechtsmedizin als Leiterin des Leichenschauhauses versetzt.
Sie saßen an den Tischen und tranken Bier.
Weißt du, worin ihre Arbeit bestehen wird?, fragten sie mich.
Ich hatte keine Ahnung. Sie lachten, wollten mich auf den Arm nehmen.
Sulamita wird sich mit Leichen unterhalten, erklärten sie.Gelächter. Aber jetzt mal im Ernst, sagten sie, eine Leiche ist wie die Black Box eines Flugzeugs. Alles ist in diesem Stück Fleisch aufgezeichnet, du musst dich nur hinsetzen und zuhören können. Dem Verstorbenen. Die Toten sagen die Wahrheit. Sie erzählen alles. Wer es getan hat. Wie er es getan hat. Und so knackst du das Verbrechen, sagten sie. Irgendwer fügte hinzu: Meine besten Lehrer waren die großen Mörder. Hart ist nur, den Geruch zu ertragen, sagten sie.
Ein junger Kerl mit dünnen Beinen und einem riesigen Bauch, den ich noch nie dort gesehen hatte, erinnerte an einen Fall, bei dem der damals noch ganz neue
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