Leichendieb
abgenommen. Ich musste sie fast zum Wagen tragen, wenn wir in die Kirche fuhren. Bei diesen Gelegenheiten wurde sie von den Geiern umzingelt, es fehlte nur, dass sie sie um ein Autogramm baten. Tut es sehr weh? Das war es, was sie wissen wollten. Wie sehr schmerzt es, wenn der Sohn verschwunden ist? Ganze Rudel auf der Jagd nach dem Aas. Sie liebten es, Mitleid mit dieser schönen, reichen Frau zu haben, der es so richtig beschissen ging, obwohl sie reich und schön war. Sie fühlten sich wohl dabei. Dona Lus Unglück erlaubte ihnen, sich barmherzig zu fühlen. Das war übrigens ein weiteres Symptom der Epidemie. Die pathologische Güte des Kollektivs. Statt Fieber und Durchfall tritt plötzlich dieses Symptom auf, das Mitleid.
Die Jugendlichen der Stadt verabredeten sich und schwärmten auf der Suche nach dem Piloten in die Umgebung der alten Landstraße aus. Am Unfallort stand jetzt ein Kreuz. Und es lagen Blumen dort. Júnior lebt. Derartige Spruchbänder sah man in der Stadt.
Das Schlimmste waren die Nachtwachen. Manchmal, wenn ich zur Arbeit kam, konnte ich nicht anders in die Garage gelangen, als über die Blumen und Kerzen zu fahren. Wir sammeltendie Sträuße ein, räumten den Weg, warfen alles in den Müll, aber sie brachten sofort neue Blumen, weiteren Müll, und blockierten die Straße abermals. An einem Montag lagen auch weggeworfene Chipstüten und Coca-Cola-Dosen herum. Auf dem Reitplatz. Wo die Leute ein ganz klein bisschen mitlitten und sich ziemlich gut amüsierten. Mit dem fremden Unglück. Anstatt in den Park oder ins Kino zu gehen, litten sie, Hand in Hand, bei Gebeten und Gesängen auf unserem Gehweg. Und wenn sie genug hatten vom fröhlichen Weinen, gingen sie zufrieden nach Hause.
Es kehrte keine Ruhe ein. Tagsüber die Empörung und nachts die Alpträume. In ihnen tauchte stets eine mehrstöckige Torte auf, wie meine Mutter sie gebacken hatte, auf der anstelle des lächelnden Brautpaars ein abgestürztes Flugzeug thronte, um das Geier und Sperber kreisten. Ich beobachtete die kleine dunkle Wolke der Vögel, aber wenn ich aufstand, um sie zu verscheuchen, merkte ich, dass ich selbst mit den Geiern kreiste. Im Flug wachte ich von dem rauschhaften Schwindelgefühl auf. Oder weil ich fiel, ich erinnere mich nicht genau.
Die Epidemie dauerte nicht lange an. Vielleicht einen Monat. Etwas länger. Und als wir ihren Höhepunkt erreicht hatten und die ganze Stadt sich blendend amüsierte, geschah das Unvermeidliche. So funktionieren Epidemien, behaupten die Immunologen. Sie haben einen Höhepunkt, und dann beginnen sie zurückzugehen. Abzuflauen. Tatsächlich zu verschwinden.
In dem Augenblick, als bei uns etwas Frieden einzukehren begann, brach Dona Lu zusammen. Sie konnte sich nicht damit abfinden. Wie war es möglich, dass ihr so innig geliebter Sohn, mein einziger Sohn, mein Liebstes, nicht mehr durch diese Tür hereinkommen würde? Ich will meinen Sohn, sagtesie wieder und wieder zu ihrem Mann, wie ein verzogenes kleines Mädchen.
Von der Küche aus hörten wir ihr Schluchzen. Die Ärzte kamen und stellten sie ruhig. Aber sie wachte auf, und das Geheul ging wieder los. Manchmal war sie verwirrt, fragte uns, ob Júnior schon wach sei, ob er gefrühstückt habe. Manchmal rief sie mich, um mir die Fotoalben von Júnior als Kind zu zeigen. Ganze Nachmittage verbrachten wir damit, Bilder aus der Vergangenheit anzuschauen.
Ich erinnere mich noch an einen Tag, als ich sie nach der Rückkehr von der Bank, wo ich einige Rechnungen bezahlt hatte, zu ihr ins Büro ging, um ihr die Belege zu geben, und sie über den Schreibtisch gebeugt vorfand, schluchzend wie ein kleines Kind. Wo ist mein Sohn?, fragte sie, als ich hereinkam. Ich will meinen Sohn, flüsterte sie fast flehend und schaute mir in die Augen, so redete sie mit einem, bohrte sich einem in die Augen, zutraulich, und wenn man antwortete, hörte sie einem mit kindlicher Aufmerksamkeit zu, ganz so, als wenn die Menschen nicht imstande wären zu lügen.
Was sollte ich in dem Moment sagen? Dass ihr Sohn zum Fraß der Piranhas geworden war?
Ich hatte das eigentlich bereits gesagt. Auf andere Weise. Nicht ihr, aber ihrem Mann. Wenn sie ans Telefon ging, hatte ich aufgelegt. Aber zweimal hatte ich mitten in der Nacht vom öffentlichen Fernsprecher bei mir an der Ecke aus angerufen, als ich die Gewissheit hatte, dass der Hausherr der Fazenda am Telefon war, und klipp und klar gesagt: Ihr Sohn ist tot.
Und aufgelegt. Ich war der Meinung, diese
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