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Leichendieb

Leichendieb

Titel: Leichendieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrícia Melo
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haben den Mörder gefunden. Das Grab. Egal was, es hilft.
    Wir bestellten Coca-Cola, und Sulamita fing wieder damit an, sie fühle sich unwohl wegen des Geruchs nach Verwesung, nach Fäulnis, ich solle ihr nicht zu nahe kommen. Mein Haar stinkt, meine Kleider, dieser Geruch klebt wie Kaugummi, es reicht nicht, sich bloß mit Seife zu duschen, sagte sie, wenn ich mich nicht von oben bis unten mit Alkohol abreibe, geht der Geruch nicht weg.
    Ich versuchte, sie zu beruhigen, während ich mich selbst beruhigte und von unseren Plänen sprach, von dem Land, das wir kaufen würden, ich sagte, sie könne dann kündigen undsich freimachen von dem Gestank. Dann riechst du ihn also doch?, fragte sie. Nein, sagte ich. Natürlich roch ich ihn, und er war tatsächlich unerträglich, eine Mischung aus Formaldehyd und Aas, und oben die Sonne, die alles zum Kochen brachte.
    Solange wir beide nicht in der Lage sind, meinen Vater, meine Mutter und meine Schwester zu unterhalten, kann ich hier nicht weg, sagte sie. Sie sind von mir abhängig. Die Dinge lagen komplizierter, als ich geglaubt hatte. Vater, Mutter und Schwester, das ist schon eine komplette Hölle, dachte ich, und trotzdem fuhr ich mit meiner Lügerei fort, sagte, die Fazendeiros, die Viehzüchter, die Landwirte, sie haben auch Familie, natürlich werden wir es schaffen, unsere Familie zu unterhalten. Unsere, sagte ich, als ob es auch meine gewesen wäre. Dabei war es ihre. Ihre allein. Wenn wir unser Land kaufen, sagte ich, gibst du das alles auf. Wir werden Vieh haben und etwas Geld verdienen.
    Ich war sicher, dass nichts davon eintreffen würde, aber Sulamita tat mir so leid, ich empfand so große Zärtlichkeit für sie, dass ich weiter Versprechungen machte. Wer es hörte, hätte glatt auf die Idee kommen können, dass ich nicht mehr an Rita dachte, dabei ging Rita mir nicht eine Sekunde lang aus dem Kopf.
    Ich versuche immer, den Toten nicht ins Gesicht zu sehen, sagte Sulamita. Den Tipp haben sie mir gegeben, als ich hier ankam, schau sie nicht an.
    Ich musste an den Piloten denken, an seine Augen. Manchmal tauchten diese Augen in meiner Erinnerung auf, grundlos, aus dem Nichts. Und sein letzter Seufzer. Wenn ich Dona Lu zur Kirche fuhr, musste ich an diese Augen denken. Die Augen eines Sterbenden. Es sind die Augen, die als Erstes sterben, dasist mein Eindruck. Vor allem anderen. Sie werden trübe. Und verlöschen.
    Sie haben zu mir gesagt: Achte auf die Verletzung der Leber, auf die Verletzung des Magens, auf den Schädelbruch, achte auf die Verletzung, nur auf die Verletzung, fuhr Sulamita fort. Aber wer garantiert, dass mir das gelingt? Unweigerlich schaue ich in die Augen. Ins Gesicht. Ich kann nicht anders; an jedem Tag, den ich hier bin, sage ich mir, heute schaust du niemandem ins Gesicht. Dann komme ich hier rein, und ehe ich michs versehe, starre ich dem Toten auch schon ins Gesicht. Fast als wollte ich dieses Totengesicht sehen. Als sähe ich es gerne. Dabei hasse ich es. Noch einer, denke ich, noch einer für meine Totengalerie. Ich weiß genau, wie der Mund aussieht, die Nase, ich brauche bloß die Augen zu schließen, und alle ihre Gesichter ziehen an mir vorüber wie in einem Horrorfilm.
    Nachdem wir einen Kaffee bestellt hatten, der lauwarm und schal schmeckte, erzählte sie, dass es zu ihrer Tätigkeit auch gehöre, bei Exhumierungen zu helfen. Sie buddeln die Leichen aus, und ich muss daneben stehen und assistieren. So ist das hier. Eine Arbeit schlimmer als die andere. Wenn sie völlig ausgeweidet sind, muss ich sie zunähen. Abgesehen davon, dass ich alles beschreiben muss, die Kleidung, die sie tragen, die Farbe des Haars, der Augen, der Zähne, aber das ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, nachts im Bett die Augen schließen und schlafen zu sollen. Das ist der schlimmste Teil. Und anschließend aufzuwachen und hierherzukommen. Das ist wirklich furchtbar.
    Gestern, sagte sie, hat sich die Trage verzogen, auf der ein alter Mann lag, der an einem Herzanfall gestorben war; dieTrage ist nämlich nicht ergometrisch, weil der Staat nicht mal das richtig hinkriegt, dem Staat sind seine Toten scheißegal, und der alte Mann rutschte zu Boden. Ich habe losgeheult und gedacht, reicht es denn nicht, dass der Mann stirbt, muss er mir auch noch runterfallen?
    Wir blieben noch eine Weile vor dem Kiosk sitzen, es war schon fast fünf Uhr, aber die Sonne war immer noch so intensiv wie am frühen Nachmittag. Ich sagte das zu Sulamita, und sie fügte hinzu,

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