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Leichendieb

Leichendieb

Titel: Leichendieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrícia Melo
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vormals weiß gewesen, nun aber bloß noch schmutzig waren. In der Mitte standen drei ramponierte Tische aus rostfreiem Stahl. Auf einem davon lag eine Leiche unter einem Laken, das fast alles außer den Füßen bedeckte.
    Sulamita erklärte mir, dass hier die Obduktionen vorgenommen würden. Vergewaltigungsopfer, Mordopfer, alles Mögliche, sagte sie. Leute von hier und aus der Umgegend. Jeden Tag bekommen wir Tote. Selten, dass mal ein Tag, ein einziger elender Tag vergeht, an dem keiner kommt.
    Sie erzählte, dass das ihre Arbeit sei. Die Obduktionsteams koordinieren. Die Toten in Empfang nehmen, verwahren, waschen, sie dem Pathologen von der Rechtsmedizin für seine Arbeit auf den Tisch legen. Sie sagte, sie assistiere auch bei den Obduktionen.
    Und ohne dass ich sie darum gebeten hätte, führte sie mich zu dem mittleren Tisch und zog das Laken weg, das den Leichnam einer noch jungen Frau bedeckte, deren Arme und Beine über und über mit Kratzern übersät waren. An ihrem rechten Ohr hing ein herzförmiger Ohrring.
    Die hier ist gestern gestorben, sagte Sulamita.
    Ich bemerkte, dass sie blass war.
    Vergewaltigung mit Todesfolge, fuhr sie fort. Sie haben sie gerade eben auf einer Müllhalde gefunden.
    Wir schauten die Tote einige Sekunden lang an.
    Bist du sicher, dass ich nicht diesen Geruch an mir habe?, fragte sie.
    Ja, antwortete ich und umarmte sie.
14
    Und dann fing Sulamita an zu weinen. Ich kann nicht mehr, sagte sie, ich kann nicht, ich halte das nicht aus, ich kann und ertrage das nicht, wiederholte sie ohne Unterlass. Wie eine zerkratzte Schallplatte. Ich muss hier weg, sagte sie. Ich kann nicht mehr. Sie sagte, wenn sie den Leichenwagen halten höre, jage ihr Herz wie eine Kröte auf der Flucht vor der Schlange.Ich halte das nicht aus. Ich habe ein Gefühl, als würde ich meinen eigenen Magen auskotzen. Ich kann nicht mehr. Leiterin des Leichenschauhauses, sagte sie. Wusstest du, dass das meine Funktion ist? Erst an dem Tag, an dem ich meinen Arbeitsausweis unterschrieben zurückbekam und die Eintragung darin las, wurde mir klar, was jetzt in meinem Leben passieren würde. Bis dahin hatte ich gedacht, es handele sich um eine Beförderung, ich wäre nun nicht mehr Verwaltungsgehilfin, würde keinen Bürokram mehr erledigen und mehr verdienen. Ich hatte nicht begriffen, dass ich in dieser grauenvollen Umgebung von Menschen arbeiten würde, die stinken und verfaulen. Natürlich wusste ich, worum es ging, hatte mich beworben, gelernt, kannte alle Bezeichnungen, den Namen von jedem Instrument, das wir benutzen, sämtliche Arten von Meißeln und Pinzetten und Sägen, um den Schädel zu öffnen, ich wusste alles, die Fachtermini, die Prozedere, alles, ich hatte nur nicht verstanden, was das für mein Leben bedeuten würde. Dieser ranzige Geruch. Du riechst ihn doch, oder?
    Und sie fing wieder an zu weinen und presste die Hände vors Gesicht.
    Ich nahm Sulamita in den Arm, lass uns gehen, sagte ich.
    Wir überquerten die Straße, setzten uns vor einen Kiosk gegenüber dem Leichenschauhaus, wo auch die Familien der Toten einkehrten, um ein kaltes Sandwich zu essen, während sie darauf warteten, die Leichen zu identifizieren. Alles ist hier so, sagte sie, infiziert, man kann nirgendwohin ausweichen, in Ruhe einen Kaffee trinken, ohne auf diese Jammergestalten zu treffen, die leiden, weil der Sohn tot ist oder die Mutter oder der Bruder. Gestern schlug eine Mutter, deren zweijähriger Sohnim Schwimmbad ertrunken ist, ihren Kopf gegen die Wand und schrie.
    Ich dachte, wie froh meine eigene Mutter gewesen wäre, wenn eines Tages jemand vom Leichenschauhaus bei uns angerufen hätte, wenn wir hingegangen wären und meinen Vater identifiziert hätten, um ihn anschließend zu begraben und die Sache zu beenden. Das nämlich ist die Bedeutung des Wortes begraben. Einen Schlusspunkt setzen. Begrabt die Toten und kümmert euch um die Lebenden, wer hat das noch gleich gesagt? Solange wir die Toten nicht begraben, bleiben die Lebenden zurück und bluten. Sie machen uns fertig, die Toten. So wie Dona Lu. Mir war aufgefallen, dass es ihr seit ein paar Tagen nicht mehr wichtig war, den Sohn lebend zu finden. Die Leiche ihres Sohnes reichte schon. Sie war an dem Punkt, wo seine Leiche besser war als nichts. Dann lieber die Leiche. Genauso lief die Sache ab. Ich wusste das aus eigener Erfahrung, es gibt Augenblicke, wo sogar eine schlimme Nachricht willkommen ist. Wir haben einen Arm entdeckt. Ein Stück des Schädels. Wir

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