Leichenraub
auch so ein Schock für mich, als ich ihn dort auf dem Boden liegen sah. Er wirkte immer so unverwüstlich.«
»Ich bin froh, dass Sie da waren. Danke für alles, was Sie getan haben.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter, und die Wärme seiner Berührung ließ sie erröten. »Er ist nicht gerade pflegeleicht, was wahrscheinlich auch der Grund ist, weshalb
er nie geheiratet hat.« Tom betrachte das Krankenblatt. »Auf dem Papier steht er ganz gut da.«
»Das hatte ich ganz vergessen. Henry sagte mir, dass sein Großneffe Arzt sei.«
»Ja, aber ich bin nicht sein Hausarzt. Ich bin Facharzt für Infektionskrankheiten. Dr. Jarvis sagte, es gebe wohl ein paar Probleme mit der Pumpe.«
»Er will nach Hause. Er hat mich gebeten, einen Mann namens Bart anzurufen, der ein Boot hat.«
»Sie machen wohl Witze.« Tom blickte auf. »Bart lebt immer noch?«
»Was sollen wir nun mit ihm machen?«
»Wir?« Er klappte das Krankenblatt zu. »Wie hat Henry es geschafft, Sie da mit einzuspannen?«
Sie seufzte. »Ich fühle mich in gewisser Weise verantwortlich. Ich bin der Grund, weshalb er angefangen hat, in diesen Kartons zu wühlen und sich so zu verausgaben. Vielleicht ist es alles zu viel für ihn, und deshalb ist er zusammengebrochen.«
»Sie können Henry nicht zu etwas zwingen, was er nicht selbst will. Als ich letzte Woche mit ihm sprach, klang er so aufgeregt, wie ich ihn seit Jahren nicht mehr erlebt habe. Normalerweise ist er quengelig und depressiv. Jetzt ist er nur noch quengelig.«
»Das hab ich gehört!«, tönte es hinter dem Vorhang.
Tom zog eine Grimasse und legte das Krankenblatt weg. Er ging zu Henrys Bett und zog den Vorhang zurück. »Du bist wach.«
»Hast ja ganz schön lange gebraucht. Na los, fahren wir heim.«
»Nun mal langsam. Wieso die Eile?«
»Julia und ich haben eine Menge zu tun. Noch mindestens zwanzig Kartons! Wo ist sie?«
Sie trat zu Tom an den Vorhang. »Es ist zu spät, um jetzt noch nach Hause zu fahren. Warum schlafen Sie nicht einfach weiter?«
»Nur wenn Sie mir versprechen, dass Sie mich morgen nach Hause bringen.«
Sie sah Tom an. »Was meinen Sie?«
»Das ist Dr. Jarvis’ Entscheidung«, sagte er. »Aber wenn er sein Okay gibt, dann helfe ich Ihnen morgen früh. Ihn nach Hause zu bringen. Und dann bleibe ich noch ein paar Tage in der Nähe, für alle Fälle.«
»Oh, gut!«, rief Henry sichtlich begeistert. »Du bleibst hier!«
Tom sah seinen Großonkel an und lächelte verblüfft. »Freut mich, dass du meine Anwesenheit so zu schätzen weißt, Henry.«
»Dann kannst du ja die ganzen Kartons aus dem Keller rauftragen!«
Am späten Nachmittag des nächsten Tages brachten sie Henry mit der Fähre nach Hause. Dr. Jarvis hatte ihn angewiesen, sich sofort ins Bett zu legen, aber davon wollte Henry natürlich nichts wissen. Stattdessen postierte er sich am oberen Absatz der Kellertreppe und gab lautstark Anweisungen, während Tom die Kartons heraufschleppte. Als Henry sich dann endlich in sein Schlafzimmer zurückzog, war es Tom, der erschöpft war.
Mit einem Seufzer ließ er sich in einen Sessel am Kamin sinken und meinte: »Er ist vielleicht neunundachtzig, aber er lässt mich immer noch nach seiner Pfeife tanzen. Und wenn ich ihn ignoriere, bekomme ich es am Ende mit diesem waffenscheinpflichtigen Gehstock zu tun.«
Julia blickte von dem Karton mit Papieren auf, den sie durchgesehen hatte. »War er schon immer so?«
»Seit ich mich erinnern kann. Deshalb lebt er auch allein. Niemand sonst in unserer Familie will etwas mit ihm zu tun haben.«
»Und warum sind Sie dann hier?«
»Weil ich derjenige bin, den er immer anruft. Er hatte nie eigene Kinder, und so kommt es wohl, dass ich den Lückenbüßer
machen muss.« Tom sah sie erwartungsvoll an. »Wollen Sie nicht vielleicht einen gebrauchten Onkel adoptieren?«
»Auch nicht mit vierhundert Flaschen Jahrgangswein als Dreingabe.«
»Ah, er hat Sie also schon mit seinem Weinkeller bekannt gemacht.«
»Wir haben letzte Woche seine Vorräte ganz ordentlich dezimiert. Aber der nächste Mann, der mich betrunken macht, sollte doch bitte ein gutes Stück diesseits der Siebzig sein.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit den Dokumenten zu, die sie am Nachmittag gefunden hatten. Es handelte sich um einen Stoß alter Zeitungen, von denen die meisten aus dem späten neunzehnten Jahrhundert stammten und keinen Bezug zu Norris Marshalls Geschichte hatten. Falls die Sammelwut genetisch bedingt war, dann hatte Hilda Chamblett
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