Leichenraub
Status zu verlieren.«
Julia sah Dr. Jarvis nach und dachte: Wie komme ich eigentlich zu dieser Ehre? Aber das war nun einmal die Verpflichtung, die sie sich aufgebürdet hatte, als sie ihn in seiner Bibliothek am Boden liegend gefunden hatte. Sie war es gewesen, die den Krankenwagen gerufen und Henry auf der Überfahrt zum Festland begleitet hatte. Die letzten vier Stunden hatte sie im Wartezimmer des Penobscot Bay Medical Center gesessen und gewartet, bis die Ärzte und Krankenschwestern mit ihren Untersuchungen fertig waren. Jetzt war es neun Uhr abends, sie war ausgehungert, und sie hatte keinen Platz zum Schlafen außer der Couch im Wartezimmer.
Durch den geschlossenen Vorhang drang Henrys nörgelnde Stimme: »Dr. Jarvis hat Ihnen doch gesagt, dass ich keinen Herzinfarkt hatte. Wieso bin ich dann immer noch hier?«
»Mr. Page, unterstehen Sie sich, diesen Monitor auszustöpseln!«
»Wo ist sie? Wo ist meine junge Dame?«
»Sie ist wahrscheinlich schon gegangen.«
Julia holte tief Luft und ging hinüber zu seinem Bett. »Ich bin noch da, Henry«, sagte sie und schlüpfte durch den Vorhang.
»Bringen Sie mich nach Hause, Julia.«
»Sie wissen, dass ich das nicht kann.«
»Warum nicht? Was hindert Sie daran?«
»Unter anderem die Tatsache, dass die letzte Fähre um fünf abgelegt hat.«
»Rufen Sie meinen Freund Bart in Lincolnville an. Er hat ein Boot mit Radar. Er kann uns im Nebel übersetzen.«
»Nein, das tu ich nicht. Ich weigere mich.«
»Sie weigern sich?«
»Ja. Und Sie können mich nicht dazu zwingen.«
Er starrte sie einen Moment lang an. »So, so«, meinte er verstimmt. »Da zeigt jemand ja plötzlich Rückgrat.«
»Ihr Großneffe ist schon unterwegs. Er wird in ein paar Stunden hier sein.«
»Vielleicht wird er tun, was ich ihm sage.«
»Wenn Sie ihm nicht völlig egal sind, wird er sich weigern.«
»Und welchen Grund haben Sie , mir meine Bitte auszuschlagen?«
Sie sah ihn unverwandt an. »Weil eine Leiche mir nicht helfen kann, diese Kartons durchzugehen«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.
»Julia?«
Sie seufzte. »Ja, Henry?«
»Sie werden meinen Großneffen mögen.«
Durch den geschlossenen Vorhang hörte Julia, wie ein Arzt und eine Krankenschwester sich unterhielten. Sie setzte sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Sie war auf dem Stuhl an Henrys Bett eingenickt, und der Roman, den sie gelesen hatte, war auf den Boden gefallen. Sie hob das Taschenbuch auf und sah nach Henry. Wenigstens er schlief ruhig und friedlich.
»Ist das hier sein neuestes EKG?«, fragte eine Männerstimme.
»Ja. Dr. Jarvis sagte, sie seien alle normal gewesen.«
»Sie haben keine Arrhythmien auf dem Monitor gesehen?«
»Bis jetzt nicht.«
Sie hörte Papier rascheln. »Seine Blutwerte sehen gut aus. Oh, Moment mal, Kommando zurück. Die Leberenzyme sind ein bisschen erhöht. Er muss schon wieder seinen Weinkeller geplündert haben.«
»Brauchen Sie sonst noch irgendetwas, Dr. Page?«
»Außer einem doppelten Scotch, meinen Sie?«
Die Schwester lachte. »Na, ich habe jetzt wenigstens Feierabend. Viel Glück mit ihm. Das werden Sie bestimmt brauchen.«
Der Vorhang teilte sich, und Dr. Page trat ein. Julia erhob sich, um ihn zu begrüßen, und hielt verblüfft inne, als sie in ein wohlbekanntes Gesicht blickte. »Tom«, murmelte sie.
»Hallo, Julia. Wie ich höre, hat er Sie ganz schön genervt. Ich entschuldige mich im Namen der ganzen Familie.«
»Aber Sie...« Sie stockte. » Sie sind sein Großneffe?«
»Ja. Hat er Ihnen nicht erzählt, dass ich in Ihrer Nachbarschaft wohne?«
»Nein, das hat er mit keinem Wort erwähnt.«
Tom warf einen überraschten Blick auf Henry, der immer noch fest schlief. »Na, das ist ja merkwürdig. Ich habe ihm erzählt, dass wir uns kennen. Deswegen hat er Sie ja angerufen.«
Julia gab ihm ein Zeichen, ihr zu folgen. Sie schlüpften durch den Vorhang und gingen zur Stationszentrale. »Henry hat mich wegen Hildas Papieren angerufen. Er meinte, ich wäre an der Geschichte meines Hauses interessiert.«
»Genau. Ich hatte ihm gesagt, dass Sie mehr über die Gebeine in Ihrem Garten erfahren wollten. Henry ist so etwas wie unser Familienchronist, also dachte ich mir, er könnte Ihnen vielleicht helfen.« Tom blickte sich zu Henrys Bett um. »Nun ja, er ist immerhin neunundachtzig. Da vergisst er wohl schon mal etwas.«
»Sein Verstand ist noch messerscharf.«
»Sie meinen wohl seine Zunge?«
Sie musste lachen. »Beides. Deswegen war es
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