Leichenraub
Ihrer Familie, Tom.«
»Sie glauben, das waren ihre Gebeine dort in Ihrem Garten?«
»Ich weiß nur, dass ihr Name in diesen Briefen von Oliver Wendell Holmes immer wieder auftaucht. Dafür, dass sie nur ein armes irisches Mädchen war, hat sie einen ziemlichen Eindruck auf ihn gemacht.«
Er lehnte sich zurück und begann zu lesen. Draußen hatte der Wind aufgefrischt, und hohe Wellen brachen sich an den Felsen. Ein Luftzug im Kamin ließ die Flammen erzittern.
Toms Stuhl knarrte, als er sich plötzlich nach vorn fallen ließ. »Julia?«
»Ja?«
»Hat Oliver Wendell Holmes seine Briefe nur mit seinen Initialen unterzeichnet?«
Sie starrte auf das Blatt, das er ihr hinschob. »Du lieber Gott«, stieß sie hervor. »Das müssen wir Henry sagen.«
22
1830
Heute Abend schien es keine Rolle zu spielen, dass er der Sohn eines Farmers war.
Norris ließ sich von dem Dienstmädchen Hut und Mantel abnehmen und wäre vor Scham fast im Boden versunken, als ihm der fehlende Knopf an seiner Weste einfiel. Doch das Mädchen dankte ihm mit einem ebenso tiefen Knicks wie dem elegant gekleideten Paar vor ihm und neigte nicht minder ehrerbietig den Kopf. Und als er vortrat, um Dr. Grenville zu begrüßen, wurde er genauso herzlich willkommen geheißen.
»Mr. Marshall, wir freuen uns sehr, dass Sie uns heute Abend Gesellschaft leisten können«, sagte Grenville. »Darf ich Ihnen meine Schwester Eliza Lackaway vorstellen?«
Dass die Frau Charles’ Mutter war, sah man auf den ersten Blick. Sie hatte die gleichen blauen Augen, den gleichen blassen Teint wie er, und trotz ihres vorgerückten Alters war ihre Haut makellos wie Alabaster. Doch ihr Blick war viel direkter als der ihres Sohnes.
»Sie sind also der junge Mann, von dem mein Charles in so hohen Tönen spricht«, sagte sie.
»Ich kann mir nicht vorstellen, warum«, erwiderte Norris bescheiden.
»Er sagte, Sie seien der geschickteste Präparator in seinem Kurs. Ihre Arbeit zeichne sich durch besondere Sauberkeit und Präzision aus, und niemand habe die Gesichtsnerven so säuberlich zertrennt wie Sie.«
Das Thema schien unpassend für so eine vornehme Gesellschaft, und Norris blickte Rat suchend zu Dr. Grenville.
Doch dieser lächelte nur. »Elizas verstorbener Mann war Arzt. Unser Vater war auch Arzt. Und nun hat sie auch noch das Pech, dass sie meine Gegenwart ertragen muss – sie ist es also gewohnt, dass bei Tisch über die absonderlichsten Themen gesprochen wird.«
»Ich finde das alles höchst faszinierend«, sagte Eliza. »Als wir jung waren, hat unser Vater uns oft in den Sektionssaal mitgenommen. Wäre ich ein Mann, ich hätte mich auch für das Studium der Medizin entschieden.«
»Und du hättest eine glänzende Figur gemacht, meine Liebe«, bemerkte Grenville und tätschelte seiner Schwester den Arm.
»Wie so viele andere Frauen auch, wenn man uns nur ließe.«
Dr. Grenville seufzte resigniert. »Ein Thema, das du heute Abend gewiss noch öfter anschneiden wirst.«
»Finden Sie nicht auch, dass es eine tragische Verschwendung ist, die Talente und Fähigkeiten der Hälfte der Menschheit einfach zu ignorieren?«
»Bitte, Eliza, lass doch den armen Jungen erst einmal ein Glas Sherry trinken, ehe du ihn mit deinem Lieblingsthema traktierst!«
»Ich beantworte die Frage gerne, Dr. Grenville«, sagte Norris. Er blickte Eliza in die Augen und sah Intelligenz und Leidenschaft darin aufblitzen. »Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen, Mrs. Lackaway, und habe meine Erfahrungen folglich mit dem Vieh gemacht. Ich hoffe, Sie empfinden meinen Vergleich nicht als herabwürdigend. Aber ich habe nie beobachtet, dass ein Hengst klüger wäre als eine Stute oder ein Schafbock klüger als ein Mutterschaf. Und wenn Leib und Leben des Nachwuchses gefährdet sind, ist es stets das Weibchen, das ihn besonders aufopferungsvoll verteidigt und dabei jedem Angreifer gefährlich werden kann.«
Dr. Grenville lachte. »Das hätte kein Anwalt aus Philadelphia besser ausdrücken können!«
Eliza nickte beifällig. »Ich werde mir diese Antwort merken.
Mehr noch, ich werde sie mir ausborgen, wenn ich das nächste Mal in eine Diskussion über das Thema hineingezogen werde. Wo ist dieser Bauernhof, auf dem Sie aufgewachsen sind, Mr. Marshall?«
»In Belmont, Ma’am.«
»Ihre Mutter muss stolz darauf sein, einen so fortschrittlich denkenden Sohn großgezogen zu haben. Ich wäre es jedenfalls.«
Die Erwähnung seiner Mutter war wie ein schmerzlicher Stich in eine alte
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