Leichenraub
Mr. Norris Marshall aus Belmont. Norris, darf ich vorstellen: die Schwestern Welliver aus Providence. Ihr Vater ist Dr. Sherwood Welliver, ein Freund meines Onkels.«
»Einer seiner besten Freunde«, verbesserte die Größere der beiden. »Wir sind diesen Monat zu Besuch in Boston. Ich bin Gwendolyn, und das ist Kitty.«
»Dann wollen Sie also auch Arzt werden?«, fragte Kitty und blickte strahlend zu Norris auf. »Alle Herren, die wir dieser Tage treffen, scheinen entweder Ärzte oder angehende Ärzte zu sein.«
Die Kapelle hatte gerade mit der ersten Tour der Quadrille begonnen. Norris erhaschte einen Blick auf den klein gewachsenen Wendell, der eine wesentlich größere Blondine über die Tanzfläche führte.
»Tanzen Sie, Mr. Marshall?«
Er sah Gwendolyn an. Und da dämmerte es ihm plötzlich, dass es Charles gelungen war, sich davonzustehlen und ihn mit den Welliver-Schwestern allein zu lassen.
»Nicht sehr gut, fürchte ich«, gab er zu.
Die Mädchen lächelten ihn beide an, offensichtlich unbeeindruckt von seinem Geständnis.
»Wir sind exzellente Tanzlehrerinnen«, sagte Kitty.
Die Welliver-Schwestern waren in der Tat sehr gute Lehrerinnen; geduldig ertrugen sie seine Fehltritte, seine falschen Drehungen und seine vorübergehende Verwirrung während des Cotillons, als die anderen Paare gekonnt an ihnen vorüberwirbelten. Als Wendell an ihm vorbeitanzte, flüsterte er ihm zu: »Nimm dich in Acht vor diesen Schwestern, Norrie. Die verschlingen jeden Junggesellen, den sie in die Finger bekommen, mit Haut und Haaren!« Aber Norris genoss einfach nur ihre Gesellschaft. Heute Abend war er ein gefragter junger
Mann mit glänzenden Aussichten. Er ließ keinen Tanz aus, trank zu viel Champagner und aß zu viel Gebäck. Und er gestattete sich, nur für diesen einen Abend, von einer Zukunft mit vielen solchen Abenden zu träumen.
Als einer der letzten Gäste zog er seinen Mantel an und verließ das Haus. Es schneite; dicke, üppige Flocken wirbelten herab wie weiche Blütenblätter. Er stand auf der Beacon Street, das Gesicht zum Himmel erhoben, und atmete tief durch, dankbar für die frische Luft nach den Anstrengungen des Tanzes. Heute Abend hatte Dr. Aldous Grenville ganz Boston demonstriert, dass Norris Marshall sich seine Anerkennung verdient hatte. Dass er würdig war, in die höchsten Kreise aufgenommen zu werden.
Norris lachte und fing eine Schneeflocke mit der Zunge auf. Das Beste kommt erst noch.
»Mr. Marshall?«, ertönte ein Flüstern.
Er fuhr zusammen und starrte in die Dunkelheit. Zuerst sah er nichts als den fallenden Schnee. Dann löste sich eine Gestalt aus dem weißen Vorhang, das Gesicht umrahmt von einem zerschlissenen Umhang. Eine Eiskruste glitzerte auf ihren Wimpern.
»Ich hatte schon Angst, ich würde Sie verpassen«, sagte Rose Connolly.
»Was tun Sie hier, Miss Connolly?«
»Ich weiß nicht, wo ich mich sonst hinwenden soll. Ich habe meine Arbeit verloren, und ich habe kein Dach über dem Kopf.« Sie blickte sich um und sah dann wieder ihn an. »Sie suchen nach mir.«
»Die Nachtwache ist jetzt nicht mehr an Ihnen interessiert. Sie müssen sich nicht vor ihr verbergen.«
»Es ist nicht die Nachtwache, vor der ich mich fürchte.«
»Wer dann?«
Erschrocken blickte sie auf, als die Tür von Dr. Grenvilles Haus aufging und ein Lichtschein auf die Straße fiel. »Danke für den ausgesprochen angenehmen Abend, Dr. Grenville!«, verabschiedete sich ein Gast.
Norris machte rasch kehrt und ging davon, um nicht mit diesem zerlumpten Mädchen gesehen zu werden. Rose folgte ihm in einigem Abstand. Erst als sie fast am Ende der Beacon Street angelangt waren, kurz vor dem Fluss, schloss sie zu ihm auf.
»Werden Sie bedroht?«, fragte er.
»Sie wollen sie mir wegnehmen.«
»Wen?«
»Das Kind meiner Schwester.«
Er sah sie an, doch ihr Gesicht war unter der Kapuze ihres Umhangs verborgen. Alles, was er durch den Schleier aus Schneeflocken erkennen konnte, war ein Stück alabasterbleiche Wange. »Wer will sie Ihnen wegnehmen?«
»Ich weiß nicht, wer diese Leute sind, aber ich weiß, dass sie skrupellos sind, Mr. Marshall. Ich glaube, dass sie hinter Mary Robinsons Tod stecken. Und dem von Miss Poole. Jetzt bin nur noch ich am Leben.«
»Sie müssen sich keine Sorgen machen. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass Dr. Berry aus Boston geflohen ist. Es kann nicht mehr lange dauern, bis sie ihn finden.«
»Aber ich glaube nicht, dass Dr. Berry der Mörder ist. Ich glaube, er
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