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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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diesen Lumpen, sie hätte es mit jeder Schönheit aus Beacon Hill aufnehmen können. Doch mit den Jahren, lange bevor die Wangen eines Mädchens aus Beacon Hill ihre Jugendfrische einbüßten, würde die Armut unweigerlich den Glanz von Rose Connollys Antlitz trüben.
    Die Welt ist ungerecht. Ich kann sie nicht ändern.
    Obwohl er das Geld kaum entbehren konnte, ließ er ihr einige Münzen da; damit würde sie sich ein paar Tage lang Essen kaufen können. Sie schlief immer noch, als er das Zimmer verließ.
     
    Zwar hatte er noch nie einen Gottesdienst von Reverend William Channing besucht, doch der Ruf des Mannes war auch schon zu ihm vorgedrungen. Es war schier unmöglich, nicht von Channing gehört zu haben, dessen angeblich so fesselnde Predigten einen stetig wachsenden Kreis begeisterter Anhänger in die Unitarierkirche in der Federal Street lockten. Gestern Abend bei Dr. Grenvilles Empfang hatten die Welliver-Schwestern wahre Loblieder auf Channing gesungen. »Da treffen Sie am Sonntagmorgen alles an, was Rang und Namen hat«, hatte Kitty Welliver geschwärmt. »Wir werden alle morgen dort sein – Mr. Kingston und Mr. Lackaway und sogar Mr. Holmes, obwohl er kalvinistisch erzogen wurde. Das sollten Sie sich nicht entgehen lassen, Mr. Marshall! Seine Predigten sind so eindrucksvoll, so tiefschürfend. Er bringt einen wahrhaft zum Nachdenken !«
    Obwohl Norris bezweifelte, dass Kitty Welliver je auch nur
einen tiefschürfenden Gedanken gehabt hatte, konnte er ihren Rat, den Gottesdienst zu besuchen, nicht ignorieren. Gestern Abend hatte er einen Einblick in jenen Kreis bekommen, in dem er eines Tages zu verkehren hoffte, und der gleiche Kreis würde sich an diesem Morgen in der Kirche in der Federal Street erneut versammeln.
    Kaum hatte er das Gotteshaus betreten, da erblickte er auch schon die ersten bekannten Gesichter. Wendell und Edward saßen vorn, und er wollte sich gerade zu ihnen gesellen, als ihm jemand auf die Schulter tippte und er sich plötzlich von den beiden Welliver-Schwestern flankiert sah.
    »Oh, wir hatten gehofft, dass Sie kommen würden!«, sagte Kitty. »Möchten Sie sich nicht zu uns setzen?«
    »Ja, bitte!«, bekräftigte Gwendolyn. »Wir sitzen immer oben.«
    Und so ging er mit nach oben, machtlos angesichts dieser geballten weiblichen Willenskraft, und fand sich auf der Empore wieder, eingezwängt zwischen Kittys Röcken zur Linken und Gwendolyns zur Rechten. Bald schon fand er heraus, warum die Schwestern diesen isolierten Platz auf der Empore vorzogen: Hier konnten sie während Reverend Channings gesamter Predigt, die sie sich offensichtlich nicht anzuhören gedachten, ungestört tratschen.
    »Sieh mal, da ist Elizabeth Peabody! Die sieht heute aber sehr streng aus«, sagte Kitty. »Und was für ein scheußliches Kleid. So unvorteilhaft!«
    »Man sollte meinen, dass Reverend Channing ihre Gesellschaft allmählich satthat«, flüsterte Gwendolyn zurück.
    Kitty stieß Norris an. »Sie haben die Gerüchte noch nicht gehört, oder? Über Miss Peabody und den Reverend? Sie stehen sich nahe. Sehr nahe«, fügte Kitty mit raffinierter Betonung hinzu.
    Norris spähte über die Brüstung der Empore nach der Femme fatale im Zentrum des Skandals und erblickte eine schlicht gekleidete Frau mit einer unattraktiven Brille und einem Ausdruck verbissener Konzentration.

    »Da ist Rachel. Ich wusste gar nicht, dass sie aus Savannah zurück ist«, sagte Kitty.
    »Wo?«
    »Gleich neben Charles Lackaway. Die beiden werden doch nicht...«
    »Das kann ich mir nicht vorstellen. Findest du nicht, dass Charles heute merkwürdig aussieht? Irgendwie kränklich.«
    Kitty beugte sich vor. »Er hat ja gestern Abend behauptet, er hätte Fieber. Vielleicht hat er tatsächlich die Wahrheit gesagt.«
    Gwendolyn kicherte. »Oder Rachel ist einfach viel zu anstrengend für ihn.«
    Norris versuchte sich auf Reverend Channings Predigt zu konzentrieren, doch es war unmöglich bei dem unaufhörlichen Geplapper der beiden Mädchen. Gestern Abend hatte er ihre Ausgelassenheit noch reizend gefunden, aber heute fand er es nur noch ärgerlich, wie sie sich ständig darüber ausließen, wer neben wem saß, welches Mädchen langweilig und welches ein trockener Bücherwurm war. Er musste plötzlich an Rose Connolly denken, wie sie in ihren Lumpen erschöpft auf dem Fußboden seines Zimmers eingeschlafen war, und er stellte sich die gemeinen Bemerkungen vor, die diese Mädchen über sie machen würden. Würde Rose auch nur ein Wort

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