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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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bedeutenden Freunde in ihren prächtigen Häusern.«
    Er sah sie an und seufzte. »Es ist nicht so, als wäre es mir nicht wichtig. Ich kann nur einfach nichts tun. Ich bin kein Polizist. Ich habe nicht das Recht, mich einzumischen. Und ich schlage vor, dass Sie der Sache künftig auch aus dem Weg gehen, Miss Connolly.« Er wandte sich ab.
    »Das kann ich nicht«, sagte sie, und ihre Stimme drohte plötzlich zu versagen. »Ich weiß doch nicht, wohin ich mich sonst wenden soll...«
    Er ging ein paar Schritte, zögerte und blieb schließlich stehen. Hinter sich hörte er sie leise weinen. Als er sich umdrehte, sah er, dass sie erschöpft an einem Tor lehnte, den Kopf mutlos gesenkt. Das war eine Rose Connolly, die er noch nicht kannte, so ganz anders als das unerschrockene Mädchen, das er auf der Entbindungsstation erlebt hatte.
    »Haben Sie wirklich kein Dach über dem Kopf?«, fragte er und sah, wie sie den Kopf schüttelte. Er griff in die Tasche. »Wenn es eine Frage des Geldes ist, dann nehmen Sie alles, was ich bei mir habe.«
    Da richtete sie sich plötzlich kerzengerade auf und funkelte ihn an.
    »Ich will nichts für mich! Das ist für Meggie. Es ist alles für Meggie.« Aufgebracht fuhr sie sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich glaubte, dass uns etwas verbindet, Sie und mich. Wir haben beide die Kreatur gesehen. Wir wissen beide, wozu sie fähig ist. Sie haben vielleicht keine Angst vor ihr, aber ich. Sie will das Baby. Also jagt sie mich.« Sie holte tief Luft und hüllte sich fester in ihren Umhang, wie um die Augen der Nacht abzuwehren. »Ich werde Sie nicht wieder belästigen«, sagte sie und wandte sich ab.
    Er sah ihr nach, eine schmächtige Gestalt, die nach und nach von dem Vorhang aus fallenden Flocken verhüllt wurde. Mein Traum ist es, Leben zu retten, dachte er, an zahllosen Krankenbetten heldenhafte Kämpfe auszufechten. Doch
wenn einmal ein Mädchen, das auf der Welt ohne Freunde ist, mich um Hilfe anfleht, ist es mir schon zu viel.
    Die Gestalt war jetzt fast in dem weißen Gestöber verschwunden.
    »Miss Connolly!«, rief er. »Mein Zimmer ist nicht weit von hier. Wenn Sie für diese eine Nacht einen Platz zum Schlafen brauchen, dürfte es Ihren Zwecken wohl genügen.«

23
    Das war ein Fehler.
    Norris lag im Bett und überlegte hin und her, was er am Morgen mit seinem Gast machen sollte. In einem spontanen Akt unüberlegter Nächstenliebe hatte er sich eine Verantwortung aufgebürdet, die er nicht brauchen konnte. Es ist ja nur vorübergehend, gelobte er sich; dies konnte keine dauerhafte Lösung sein. Immerhin hatte das Mädchen sich alle Mühe gegeben, nicht aufzufallen. Lautlos war sie hinter ihm die Treppe hinaufgeschlichen, damit niemand mitbekam, dass er einen weiblichen Gast ins Haus geschmuggelt hatte. Dann hatte sie sich wie ein erschöpftes Kätzchen in der Ecke zusammengerollt und war fast augenblicklich eingeschlafen. Er konnte sie nicht einmal atmen hören. Nur indem er den Kopf hob und nach ihrer schemenhaften Form auf dem Fußboden spähte, konnte er sich davon überzeugen, dass sie überhaupt da war. Er dachte an die Herausforderungen in seinem eigenen Leben – wie unbedeutend sie doch schienen, wenn er sich vorstellte, womit Rose Connolly Tag für Tag auf den Straßen dieser Stadt zu kämpfen hatte.
    Aber ich kann nichts dagegen tun. Die Welt ist nun einmal ungerecht, und ich kann die Welt nicht ändern.
    Als er am nächsten Morgen aufstand, schlief sie noch. Er überlegte, ob er sie wecken und sie ihrer Wege schicken sollte, doch er brachte es nicht übers Herz. Sie schlief tief und fest wie ein Kind. Bei Tageslicht wirkten ihre Kleider noch zerlumpter; er sah, dass ihr Umhang schon viele Male geflickt worden war, und bemerkte die Schlammspritzer auf dem Saum ihres Rocks. An ihrem Finger glitzerte ein Ring, besetzt mit Steinen aus buntem Glas, eine billige Version jener vielfarbigen Ringe, die er an den Händen so vieler feiner
Damen gesehen hatte, auch an der seiner eigenen Mutter. Aber dies hier war eine schlechte Fälschung, ein Blechspielzeug, wie man es einem Kind gab. Es berührte ihn seltsam, dass Rose sich so ungeniert mit solch billigem Tand schmückte, als trüge sie ihre Armut stolz an ihrem Ringfinger zur Schau. Sie mochte arm sein, doch ihr Gesicht war feinknochig und ohne Makel, und in ihrem kastanienbraunen Haar ließ die Sonne kupferfarbene Strähnen schimmern. Hätte sie auf einem Kissen aus feiner Spitze geruht statt auf

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