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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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über das Kleid eines anderen Mädchens oder die Amouren eines Geistlichen verlieren? Nein, was sie beschäftigte, waren elementare Sorgen: wie sie ihren Magen füllen, wo sie Unterschlupf vor dem Sturm finden würde – Bedürfnisse, die allen fühlenden Wesen gemeinsam waren. Und doch hielten die Welliver-Schwestern sich gewiss für weitaus kultivierter, weil sie so schöne Kleider besaßen und die Muße hatten, den Sonntagmorgen auf der Empore einer Kirche zu vertändeln.
    Er lehnte sich an die Brüstung und hoffte, dass seine konzentrierte Miene ein deutliches Zeichen für Kitty und Gwendolyn wäre, ihr Geplapper einzustellen, doch sie redeten einfach über seinen Kopf hinweg weiter. Wo hat Lydia bloß
diesen scheußlichen Hut aufgetrieben? Siehst du, wie Dickie Lawrence sie ständig anstarrt? Oh, sie hat mir heute Morgen etwas ganz Pikantes erzählt! Der wahre Grund, weshalb Dickies Bruder so Hals über Kopf aus New York heimkehren musste. Es ist nämlich wegen einer jungen Dame... Gütiger Himmel, dachte Norris, gab es irgendeinen Skandal, von dem diese Mädchen nichts wussten? Gab es irgendwo einen verstohlenen Blick, den sie nicht registrierten?
    Was würden sie dazu sagen, dass Rose Connolly in seinem Zimmer geschlafen hatte?
    Als Reverend Channing endlich mit seiner Predigt fertig war, wollte Norris nur möglichst schnell den Schwestern entfliehen, doch sie blieben stur sitzen und hielten ihn in ihrer Mitte gefangen, während die Kirche sich zu leeren begann.
    »Oh, wir können noch nicht gehen«, sagte Kitty und zog ihn auf seinen Platz zurück, als er Anstalten machte, sich zu erheben. »Von hier oben kann man alles viel besser sehen.«
    »Was sehen?«, fragte er, der Verzweiflung nahe.
    »Rachel wirft sich Charles regelrecht an den Hals.«
    »Sie ist schon seit Juni hinter ihm her. Erinnerst du dich noch an das Picknick in Weston? Auf dem Landsitz seines Onkels? Charlie musste praktisch in den Garten fliehen, um ihr zu entkommen.«
    »Wieso sitzen sie immer noch? Man sollte doch meinen, dass Charlie inzwischen versucht hätte, die Flucht zu ergreifen.«
    »Vielleicht will er gar nicht fliehen, Gwen. Vielleicht hat sie ihn tatsächlich schon an der Angel. Denkst du, dass das der wahre Grund ist, warum er uns im März nicht besucht hat? Da hatte sie ihn sich schon gekrallt!«
    »Oh – jetzt stehen sie auf. Sieh nur, wie sie den Arm um ihn legt...« Kitty stockte. »Um Himmels willen, was hat er denn?«
    Charles wankte von seinem Platz zum Mittelgang und griff Halt suchend nach der Rückenlehne einer Bank. Einen Moment
lang stand er schwankend da und sank dann langsam zu Boden.
    Die Welliver-Schwestern schnappten erschrocken nach Luft und sprangen gleichzeitig auf. Unten brach das Chaos aus, als die Kirchenbesucher sich um den zusammengebrochenen Charles scharten.
    »Lasst mich durch!«, rief Wendell.
    Kitty schluchzte übertrieben und schlug die Hand vor den Mund. »Ich hoffe doch, es ist nichts Ernstes!«
    Bis Norris nach unten geeilt war und sich seinen Weg durch die Menge gebahnt hatte, knieten Wendell und Edward schon neben ihrem Freund.
    »Mir geht’s gut«, murmelte Charles. »Wirklich.«
    »Du siehst aber nicht gut aus, Charlie«, erwiderte Wendell. »Wir haben nach deinem Onkel geschickt.«
    »Er muss doch nichts davon erfahren.«
    »Du bist weiß wie die Wand. Bleib ja still liegen.«
    Charles stöhnte. »O Gott, das wird mir ewig anhängen.«
    Norris’ Blick fiel plötzlich auf den Verband, der Charles’ linke Hand umschloss. Die Fingerspitzen, die aus dem Stoff hervorschauten, waren rot und geschwollen. Er kniete sich hin und zupfte an dem Verband.
    Charles stieß einen Schrei aus und versuchte die Hand wegzuziehen. »Nicht anfassen!«, flehte er.
    »Charlie«, sagte Norris ruhig, »ich muss nachsehen. Das weißt du selbst.« Langsam wickelte er den Verband ab. Als schließlich die schwarz verfärbte Haut darunter zum Vorschein kam, prallte er entsetzt zurück. Er sah Wendell an, der nur schweigend den Kopf schüttelte.
    »Wir müssen dich nach Hause bringen, Charlie«, sagte Norris. »Dein Onkel wird wissen, was zu tun ist.«
     
    »Es ist jetzt ein paar Tage her, dass er sich bei der Anatomie-übung geschnitten hat«, sagte Wendell. »Er hat gewusst, dass seine Hand immer schlimmer wird. Warum zum Teufel hat er niemandem etwas gesagt?«

    »Hätte er denn zugeben sollen, wie tollpatschig und unfähig er ist?«
    »Er wollte ja nie Medizin studieren. Der arme Charlie wäre glücklich und

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