Leichenraub
zufrieden, wenn er sein Leben in diesem Zimmer verbringen und seine kleinen Verse schmieden könnte.« Wendell stand am Fenster von Dr. Grenvilles Salon und sah hinaus auf die Straße, wo gerade ein Vierspänner vorüberfuhr. Erst gestern Abend war dieses Haus von Lachen und Musik erfüllt gewesen; jetzt war es unheimlich still, bis auf die knarrenden Schritte im Obergeschoss und das Knistern des Kaminfeuers. »Er hat kein Talent für die Medizin, und wir alle wissen es. Das müsste eigentlich auch sein Onkel akzeptieren.«
Für alle anderen war es jedenfalls offensichtlich, dachte Norris. Kein anderer Student stellte sich so ungeschickt mit dem Skalpell an, keiner war so wenig darauf vorbereitet, sich mit den grimmigen Realitäten ihres erwählten Berufs auseinanderzusetzen. Der Sektionssaal war nur ein Vorgeschmack dessen gewesen, was einen Mediziner erwartete. Es würde noch weit Schlimmeres auf sie zukommen: der Gestank des Typhus, die Schreie auf dem Operationstisch. Eine Leiche zu sezieren war gar nichts; die Toten beklagen sich nicht. Das wahre Grauen lauerte im lebendigen Fleisch.
Sie hörten ein Klopfen an der Haustür. Mrs. Furbush, die Haushälterin, kam herbeigeeilt, um den Besucher in Empfang zu nehmen.
»Oh. Dr. Sewall! Gott sei Dank, dass Sie da sind! Mrs. Lackaway ist ganz außer sich, und Dr. Grenville hat ihn schon zweimal zur Ader gelassen, aber das Fieber ist unverändert hoch, und ihm liegt sehr daran, Ihre Meinung zu hören.«
»Ich bin nicht sicher, ob meine Fähigkeiten schon gebraucht werden.«
»Sie werden vielleicht Ihre Meinung ändern, wenn Sie seine Hand sehen.«
Norris erhaschte einen Blick auf Dr. Sewall, als dieser mit seiner Instrumententasche in der Hand an der Tür des Salons
vorbeiging, und er hörte ihn die Stufen zum Obergeschoss hinaufsteigen. Mrs. Furbush wollte ihm schon nacheilen, als Wendell ihr zurief: »Wie geht es Charles?«
Mrs. Furbush blickte sie durch die offene Tür an, und ihre einzige Antwort bestand in einem betrübten Kopfschütteln.
Edward murmelte: »Das sieht allmählich ziemlich übel aus.«
Von oben hörten sie Männerstimmen und Mrs. Lackaways Schluchzen. Wir sollten gehen, dachte Norris. Wir stören diese Familie in ihrem Kummer. Doch seine beiden Gefährten machten keine Anstalten aufzubrechen; auch nicht, als der Nachmittag weiter vorrückte und das Dienstmädchen ihnen noch eine Kanne Tee und ein Tablett mit Gebäck brachte.
Wendell rührte nichts an. Er ließ sich in einen Sessel sinken und starrte mit grimmig konzentrierter Miene ins Feuer. »Sie hatte Kindbettfieber«, sagte er unvermittelt.
»Was?«, fragte Edward.
Wendell sah auf. »Die Leiche, die er an dem Tag seziert hat, als er sich in den Finger schnitt. Es war eine Frau, und Dr. Sewall sagte, sie sei an Kindbettfieber gestorben.«
»Und?«
»Ihr habt seine Hand gesehen.«
Edward schüttelte den Kopf. »Ein ganz grässlicher Fall von Wundrose.«
»Das war Wundbrand, Eddie. Jetzt hat er Fieber, und sein Blut ist vergiftet, durch irgendetwas, was er sich durch einen kleinen Schnitt mit dem Skalpell zugezogen haben muss. Denkst du, es ist reiner Zufall, dass die Frau ebenfalls an einem plötzlich auftretenden Fieber gestorben ist?«
Edward zuckte mit den Achseln. »Viele Frauen sterben daran. In diesem Monat waren es mehr als je zuvor.«
»Und die meisten wurden von Dr. Crouch behandelt«, sagte Wendell leise. Wieder starrte er ins Feuer.
Sie hörten Schritte auf der Treppe, und kurz darauf füllte Dr. Sewalls massige Gestalt fast die ganze Türöffnung aus. Er
musterte die drei jungen Männer, die im Salon versammelt waren, und sagte dann: »Sie, Mr. Marshall! Und Mr. Holmes auch. Kommen Sie beide mit nach oben.«
»Sir?«, fragte Norris.
»Sie müssen den Patienten festhalten.«
»Was ist mit mir?«, fragte Edward.
»Meinen Sie wirklich, dass Sie dazu bereit sind, Mr. Kingston?«
»Ich... ich denke doch, Sir.«
»Dann kommen Sie mit. Wir können Sie gewiss gebrauchen.«
Die drei jungen Männer folgten Sewall nach oben, und mit jedem Schritt wuchs Norris’ Beklemmung, denn er ahnte bereits, was passieren würde. Sewall führte sie durch den Flur im ersten Stock, und Norris sah im Vorbeigehen die Familienporträts an der Wand, eine lange Galerie eleganter Herren und schöner Damen.
Sie betraten Charles’ Zimmer.
Die Sonne ging bereits unter, und das letzte winterliche Licht des Nachmittags schimmerte im Fenster. Um das Bett herum brannten fünf Lampen. In der Mitte
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