Leichenraub
lag Charles, das Gesicht leichenblass, die linke Hand unter einem Tuch verborgen. In einer Ecke saß stocksteif seine Mutter, die Hände im Schoß ineinandergekrampft, Panik in den Augen. Dr. Grenville stand am Bett seines Neffen, den Kopf in müder Resignation gesenkt. Auf einem Tisch lag eine Reihe chirurgischer Instrumente parat: Skalpelle, eine Säge, Nahtmaterial aus Seide und eine Aderpresse.
Charles wimmerte leise. »Mutter, bitte«, flüsterte er. »Lass es nicht zu.«
Eliza richtete einen verzweifelten Blick auf ihren Bruder. »Gibt es denn keine andere Möglichkeit, Aldous? Morgen geht es ihm vielleicht schon besser! Wenn wir noch ein wenig warten...«
»Wenn er uns seine Hand schon früher gezeigt hätte«, sagte Grenville, »dann hätte ich den Prozess vielleicht aufhalten
können. Ein Aderlass gleich zu Beginn hätte das Gift abziehen können. Aber dazu ist es jetzt viel zu spät.«
»Er sagte, es sei nur ein kleiner Schnitt gewesen. Nichts von Bedeutung.«
»Ich habe schon die allerkleinsten Schnitte eitern und brandig werden sehen«, sagte Dr. Sewall. »Wenn das passiert, dann bleibt keine andere Wahl.«
»Mutter, bitte !« Charles richtete seine angstgeweiteten Augen auf seine Kommilitonen. »Wendell, Norris – lasst es nicht zu. Das dürfen sie nicht!«
Norris konnte ihm nichts dergleichen versprechen; er wusste, was getan werden musste. Er starrte das Skalpell und die Knochensäge auf dem Tisch an und dachte: Lieber Gott, ich will das nicht mit ansehen. Aber er blieb standhaft, denn er wusste, dass seine Hilfe dringend gebraucht wurde.
»Wenn ihr sie abnehmt, Onkel«, sagte Charles, »werde ich nie ein Chirurg sein können!«
»Ich möchte, dass du noch eine Dosis Morphium einnimmst«, sagte Grenville, indem er den Kopf seines Neffen anhob. »Komm, trink!«
»Ich werde nie sein, was du dir gewünscht hast!«
»Trink es, Charles. Den ganzen Becher.«
Charles sank aufs Kissen zurück und schluchzte leise. »Das ist alles, was ich je gewollt habe«, stöhnte er. »Dass du stolz auf mich sein kannst.«
»Ich bin stolz auf dich, mein Junge.«
»Wie viel hast du ihm gegeben?«, fragte Sewall.
»Bis jetzt vier Dosen. Ich wage nicht, ihm mehr zu geben.«
»Dann lass uns beginnen, Aldous.«
»Mutter?«, flehte Charles.
Eliza stand auf und zerrte verzweifelt am Arm ihres Bruders. »Könnt ihr denn nicht noch einen Tag warten? Bitte, nur noch einen Tag!«
»Mrs. Lackaway«, sagte Dr. Sewall, »in einem Tag wird es zu spät sein.« Er hob das Tuch an, das den linken Arm des Patienten bedeckte, und gab den Blick auf Charles’ grotesk angeschwollene
Hand frei. Die Haut war straff wie ein Ballon und grünlich-schwarz verfärbt. Selbst auf die Entfernung konnte Norris das faulende Fleisch riechen.
»Das ist keine bloße Wundrose mehr, Madam«, erklärte Sewall. »Das ist eine feuchte Gangrän. Das Gewebe ist nekrotisch, und allein in der kurzen Zeit, die ich hier bin, ist es noch weiter angeschwollen, angefüllt mit giftigen Gasen. Hier am Arm zieht sich bereits ein roter Streifen entlang zum Ellenbogen hinauf; ein Anzeichen dafür, dass das Gift sich ausbreitet. Bis morgen könnte es durchaus die Schulter erreicht haben. Und dann kann nichts mehr den Prozess rückgängig machen, nicht einmal eine Amputation.«
Eliza stand da, die Hand auf den Mund gepresst, und blickte betroffen auf Charles hinab. »Dann hilft also nichts sonst? Es gibt keine andere Möglichkeit?«
»Ich hatte schon mit zu vielen Fällen wie diesem zu tun. Männer, deren Gliedmaßen bei Unfällen zerquetscht oder von Kugeln durchbohrt worden waren. Ich habe gelernt, dass, wenn die feuchte Gangrän einmal eingesetzt hat, nur noch ein begrenzter Zeitraum zum Handeln bleibt. Zu oft habe ich das Notwendige schon hinausgeschoben, und stets habe ich es bedauert. Ich habe gelernt, wie wichtig es ist, früh genug zu amputieren.« Er hielt inne und fuhr mit leiserer, sanfterer Stimme fort: »Der Verlust einer Hand ist nicht der Verlust einer Seele. Wenn alles gut geht, wird Ihnen Ihr Sohn erhalten bleiben, Madam.«
»Er ist mein einziges Kind«, flüsterte Eliza mit tränenerstickter Stimme. »Ich darf ihn nicht verlieren, das wäre mein sicherer Tod.«
»Sie werden beide nicht sterben.«
»Versprechen Sie es mir?«
»Unser Schicksal liegt immer in Gottes Hand, Madam. Aber ich werde mein Bestes tun.« Er hielt inne und wandte sich an Grenville. »Vielleicht wäre es besser, wenn Mrs. Lackaway hinausginge.«
Grenville nickte.
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