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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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die rechte Schulter. Sosehr er sich auch sträubte, jammerte und flehte, nichts konnte das Messer aufhalten.
    Beim ersten Schnitt von Sewalls Klinge stieß Charles einen schrillen Schrei aus. Blut spritzte auf Norris’ Hände und tropfte auf das Laken. Sewall arbeitete so schnell, dass er in den wenigen Sekunden, in denen Norris nicht hingesehen hatte, bereits die Haut rings um den ganzen Unterarm aufgeschlitzt hatte. Als Norris sich zwang, den Blick wieder auf die Wunde zu richten, schälte Sewall schon die Haut von der Faszie zurück, um einen Lappen zu bilden. Er arbeitete mit grimmiger Entschlossenheit, ohne auf das Blut zu achten, das an seine Schürze spritzte, oder auf Charles’ markerschütternde Schmerzensschreie, ein so fürchterliches Geräusch, dass sich Norris die Nackenhaare aufstellten. Der Arm war jetzt glitschig von Blut, und Charles, der sich wie ein wildes Tier wehrte, hätte es beinahe geschafft, sich loszureißen.
    »Festhalten, verdammt noch mal!«, brüllte Sewall.
    Gekränkt packte Norris noch fester zu. Halb taub von Charles’ Schreien, hielt er den Arm unbarmherzig umklammert, und seine Finger bohrten sich wie Krallen in das Fleisch.
    Sewall legte das Amputationsmesser weg und griff nach einem Instrument mit größerer Klinge, um die Muskeln zu zerteilen. Mit der brutalen Effizienz eines Schlachters führte er ein paar tiefe Schnitte, und schon war er auf dem Knochen.

    Charles’ Schreie gingen in ein ersticktes Schluchzen über. »Mutter! O Gott, ich sterbe!«
    »Mr. Marshall!«
    Norris starrte den Wundhaken an, den Sewall soeben in der Wunde platziert hatte.
    »Nehmen Sie ihn!«
    Mit der rechten Hand hielt Norris weiter Charles’ Arm gepackt, während er mit der Linken an dem Retraktor zog und die Wunde freilegte. Da, unter einem Schleier von Blut und Gewebestreifen, schimmerte hell der Knochen hervor. Die Speiche, dachte Norris, als er sich an die anatomischen Illustrationen im Wistar erinnerte, die er so eingehend betrachtet hatte. Er dachte an das präparierte Skelett, das er im Sektionssaal studiert hatte. Aber das waren trockene, spröde Knochen gewesen, so ganz anders als diese lebendige Speiche.
    Dr. Sewall griff zur Säge.
    Während der Chirurg Speiche und Elle durchtrennte, spürte Norris den Akt der Verstümmelung durch den Arm, den er gefasst hielt – das Raspeln der Sägezähne, das Splittern der Knochen.
    Und er hörte Charles’ Schreie.
    Binnen Sekunden war gnädigerweise alles vorbei. Dann hielt Grenville den abgetrennten Teil in den Händen, und nur noch der Stumpf blieb zurück. Das schlimmste Gemetzel war vorüber, und was nun kam, war die Feinarbeit beim Abbinden der Gefäße. Norris sah tief beeindruckt zu, wie geschickt Sewall die Speichen- und Ellenschlagader sowie die Arteria interossea freilegte und sie alle mit einer Seidennaht abband.
    »Ich hoffe, Sie haben alle gut aufgepasst, meine Herren«, sagte Dr. Sewall, der sich nun daranmachte, den Hautlappen festzunähen. »Denn eines Tages werden Sie selbst vor der Aufgabe stehen, eine solche Operation durchzuführen. Und es wird vielleicht keine so einfache Amputation sein wie diese hier.«
    Norris sah auf Charles hinab, dessen Augen jetzt geschlossen
waren. Seine Schreie waren einem erschöpften Wimmern gewichen. »Das schien mir alles andere als einfach, Sir«, sagte er leise.
    Sewall lachte. »Das hier? Das war bloß ein Unterarm. Eine Schulter oder ein Oberschenkel, das ist weitaus schlimmer. Da genügt keine einfache Aderpresse mehr. Wenn Sie einmal die Kontrolle über die Arteria subclavia oder die Oberschenkelschlagader verlieren, werden Sie verblüfft sein, wie viel Blut ein Mensch in wenigen Sekunden verlieren kann.« Er führte die Nadel wie ein erfahrener Schneidermeister und schloss den Hautlappen bis auf eine kleine Lücke, die als Abflussöffnung diente. Nachdem er mit Nähen fertig war, verband er fein säuberlich den Stumpf und sah Grenville an. »Ich habe getan, was ich konnte, Aldous.«
    Grenville nickte dankbar. »Ich hätte meinen Neffen niemand anderem als dir anvertraut.«
    »Hoffen wir, dass du dein Vertrauen in den Richtigen gesetzt hast.« Sewall ließ seine blutigen Instrumente in eine Wasserschüssel fallen. »Das Leben deines Neffen liegt jetzt in Gottes Hand.«
     
    »Es können immer noch Komplikationen auftreten«, sagte Sewall.
    Im Salon brannte ein munteres Feuer, und Norris hatte bereits mehrere Gläser von Dr. Grenvilles exzellentem Bordeaux geleert, doch noch immer saß ihm

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