Leichenraub
»Geh, Eliza. Bitte.«
Sie zögerte einen Moment, den Blick sehnsüchtig auf ihren Sohn geheftet, dessen Lider unter dem Einfluss der Droge schon schwer wurden. »Sorge dafür, dass nichts schiefgeht, Aldous«, sagte sie zu ihrem Bruder. »Wenn wir ihn verlieren, werden wir im Alter keine Stütze haben. Niemand kann ihn ersetzen.« Mit einem unterdrückten Schluchzer verließ sie den Raum.
Sewall wandte sich an die drei Medizinstudenten. »Mr. Marshall, ich empfehle Ihnen, den Rock auszuziehen. Es wird viel Blut fließen. Mr. Holmes, Sie werden den rechten Arm festhalten; Sie, Mr. Kingston, die Füße. Mr. Marshall und Dr. Grenville werden den linken Arm nehmen. Auch vier Dosen Morphium werden nicht ausreichen, die Schmerzen zu unterdrücken, und er wird sich wehren. Die vollständige Ruhigstellung des Patienten ist entscheidend für meinen Erfolg. Die einzig barmherzige Art und Weise, diese Operation durchzuführen, ist, schnell zu arbeiten, ohne Zögern und vergeudete Anstrengung. Haben Sie verstanden, meine Herren?«
Die Studenten nickten.
Wortlos zog Norris seinen Rock aus und hängte ihn über einen Stuhl. Er trat an Charles’ linke Seite.
»Ich werde versuchen, so viel wie möglich von dem Glied zu erhalten«, sagte Dr. Sewall, während er Tücher unter den Arm des Patienten schob, um den Boden und die Matratze vor dem Blut zu schützen. »Aber ich fürchte, die Infektion ist zu weit fortgeschritten, als dass ich das Handgelenk retten könnte. Es gibt jedenfalls diverse medizinische Autoritäten – Dr. Larry beispielsweise -, die der Ansicht sind, es sei immer ratsam, den Unterarm weiter oben abzunehmen, in der fleischigen Partie. Und das gedenke ich auch zu tun.« Er band sich eine Schürze um und sah Norris an. »Ihnen kommt bei dieser Operation eine entscheidende Rolle zu, Mr. Marshall. Da Sie mir der Kräftigste und der Nervenstärkste von allen zu sein scheinen, möchte ich, dass Sie den Unterarm festhalten, direkt oberhalb der Stelle, an der ich den Schnitt ansetzen werde. Dr. Grenville wird die Hand unter Kontrolle halten. Während ich
arbeite, wird er es sein, der den Unterarm einwärts und auswärts dreht, damit ich an alle Strukturen herankomme. Zunächst wird die Haut aufgeschnitten und anschließend von der Faszie gelöst. Nachdem ich die Muskeln durchtrennt habe, werde ich Sie bitten, den Wundhaken zu halten, damit ich die Knochen sehen kann. Ist das alles klar?«
Norris konnte kaum schlucken, so ausgetrocknet war seine Kehle. »Ja, Sir«, murmelte er.
»Sie dürfen jetzt nicht verzagen. Wenn Sie glauben, dass es Ihre Kräfte übersteigt, dann sagen Sie es jetzt.«
»Ich schaffe das schon.«
Sewall musterte ihn lange und eingehend. Offensichtlich zufriedengestellt, griff er sodann nach der Aderpresse. Seine Augen verrieten keine Unsicherheit, keinerlei Zweifel an dem, was er vorhatte. Es gab in ganz Boston keinen besseren Chirurgen als Erastus Sewall, und sein Vertrauen in das eigene Können zeigte sich in der Geschicklichkeit, mit der er die Binde oberhalb des Ellbogens um Charles’ Arm schlang. Er platzierte den Wulst genau über der Armschlagader und zog erbarmungslos zu, bis die Blutzirkulation im Arm gänzlich unterbunden war.
Charles tauchte aus seiner Morphiumtrance auf. »Nein«, stöhnte er. »Bitte nicht.«
»Meine Herren, nehmen Sie Ihre Positionen ein.«
Norris packte den linken Arm des Patienten und drückte den Ellbogen auf die Kante der Matratze.
»Du willst doch mein Freund sein.« Charles richtete seinen jammervollen Blick auf Norris, dessen Gesicht direkt über seinem war. »Warum tust du das? Warum lässt du zu, dass sie mir wehtun?«
»Sei stark, Charlie«, erwiderte Norris. »Es muss sein. Wir versuchen dein Leben zu retten.«
»Nein. Du bist ein Verräter. Du willst mich nur aus dem Weg räumen!« Charles versuchte sich loszureißen, worauf Norris noch fester zupackte und seine Finger in die mit kaltem Schweiß bedeckte Haut bohrte. Charles wehrte sich so
heftig, dass die Muskeln in seinem Arm anschwollen und die Sehnen straff wie Taue hervortraten. »Ihr wollt mich umbringen!«, schrie Charles.
»Das ist das Morphium, das aus ihm spricht.« Ruhig griff Sewall nach seinem Amputationsmesser. »Es hat nichts zu bedeuten.« Er sah Grenville an. »Aldous?«
Dr. Grenville fasste die brandige Hand seines Neffen. Charles bäumte sich jetzt auf und wand sich, doch gegen ihre vereinten Kräfte hatte er keine Chance. Edward hielt seine Fußgelenke nieder, Wendell
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