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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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die Kälte in den Knochen. Er trug wieder seinen Rock, den er einfach über das schmutzige Hemd angezogen hatte. Wenn er auf seine Manschetten hinabsah, die aus den Jackenärmeln hervorlugten, konnte er vereinzelte Spritzer von Charles’ Blut erkennen. Auch Wendell und Edward schienen zu frieren, denn sie hatten ihre Stühle dicht an den Kamin gerückt, wo Dr. Grenville saß. Allein Dr. Sewall schien die Kälte nicht zu spüren. Seine Wangen waren schon von zahlreichen Gläsern Bordeaux gerötet, und der Wein hatte auch seine Haltung entspannt und seine Zunge gelöst. Er saß gegenüber vom Kamin in einem
Sessel, den er mit seinem enormen Leibesumfang ganz ausfüllte, und hatte die stämmigen Beine vor sich ausgestreckt.
    »Es kann so vieles noch schiefgehen«, sagte er, indem er nach der Flasche griff und sich nachschenkte. »Die kommenden Tage werden noch kritisch.« Er stellte die Flasche hin und sah Grenville an. »Das weiß sie doch, oder?«
    Allen war klar, dass er von Eliza sprach. Sie konnten ihre Stimme oben hören; sie saß am Bett ihres schlafenden Sohnes und sang ihm ein Wiegenlied. Seit Sewall mit seiner grässlichen Operation fertig war, hatte sie Charles’ Zimmer nicht mehr verlassen. Norris bezweifelte nicht, dass sie auch den Rest der Nacht an seiner Seite verbringen würde.
    »Sie ist sich der Gefahren durchaus bewusst. Meine Schwester hatte ihr ganzes Leben lang mit Ärzten zu tun. Sie weiß, was passieren kann.«
    Sewall trank einen Schluck und musterte die drei Studenten. »Ich war nur wenig älter als Sie, meine Herren, als ich gezwungen war, meine erste Amputation durchzuführen. Ihnen war eine schonende Einführung vergönnt. Sie durften eine Amputation unter idealen Bedingungen erleben, in einem bequemen Zimmer mit guter Beleuchtung, sauberem Wasser und den geeigneten Instrumenten. Und einem Patienten, der mit großzügigen Gaben von Morphium bestens vorbereitet war. Nicht zu vergleichen mit den Bedingungen, mit denen ich an jenem Tag in North Point konfrontiert war.«
    »North Point?«, fragte Wendell. »Sie haben in der Schlacht von Baltimore gekämpft?«
    »Nicht in der Schlacht. Ich bin ganz gewiss kein Soldat, und ich wollte mit diesem unsinnigen, elenden Krieg nichts zu schaffen haben. Aber ich war in jenem Sommer in Baltimore, wo ich meine Tante und meinen Onkel besuchte. Ich hatte damals mein Medizinstudium schon abgeschlossen, aber meine chirurgischen Fähigkeiten waren noch kaum auf die Probe gestellt worden. Als die britische Flotte eintraf und mit der Bombardierung von Fort McHenry begann, brauchte die Miliz von Maryland dringend sämtliche verfügbaren
Chirurgen. Ich war von Anfang an gegen den Krieg, aber ich konnte meine Verpflichtung gegenüber meinen Landsleuten nicht ignorieren.« Er nahm einen tüchtigen Zug aus seinem Glas und seufzte. »Das schlimmste Gemetzel fand auf einem offenen Feld in der Nähe des Bear Creek statt. Eine vierhundert Mann starke britische Truppe war über Land marschiert in der Hoffnung, Fort McHenry zu erreichen. Doch bei Boudens Farm wurden sie von dreihundert der Unsrigen erwartet.«
    Sewall starrte ins Feuer, als sehe er dieses Feld wieder vor sich, die vorrückenden britischen Soldaten, die Männer der Miliz von Maryland, die ihre Stellung hielten. »Es begann mit Kanonenfeuer von beiden Seiten«, sagte er. »Dann, als sie näher rückten, wurden die Musketen eingesetzt. Sie sind alle so jung. Sie haben wahrscheinlich noch nie gesehen, was eine Bleikugel in einem menschlichen Körper anrichten kann. Das Fleisch wird davon nicht so sehr durchbohrt als vielmehr zerquetscht.« Er nahm noch einen Schluck. »Als es vorbei war, hatte die Miliz zwei Dutzend Gefallene zu beklagen und an die hundert Verwundete. Die Verluste der Briten waren doppelt so hoch.
    An jenem Nachmittag führte ich meine erste Amputation durch. Ich habe mich ziemlich ungeschickt angestellt, und ich habe mir meine Fehler bis heute nicht verzeihen können. An diesem Tag unterliefen mir einfach zu viele. Ich weiß nicht mehr, wie viele Gliedmaßen ich auf diesem Feld amputieren musste. Im Rückblick neigt man zur Übertreibung, und daher waren es wohl nicht ganz so viele, wie ich mir einbilde. Bestimmt lag ich noch weit unter der Zahl von Amputationen, die Baron Larrey in der Schlacht von Borodino an Napoleons Soldaten durchgeführt haben will. Zweihundert an einem einzigen Tag – das behauptet er jedenfalls.« Sewall zuckte mit den Schultern. »In North Point habe ich vielleicht

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