Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
nur ein Dutzend Mal amputiert, aber am Ende des Tages war ich ganz stolz auf mich, weil die meisten meiner Patienten noch am Leben waren.« Er leerte sein Weinglas und griff wieder
nach der Flasche. »Mir war nicht klar, wie wenig das bedeutete.«
    »Aber Sie haben sie gerettet«, sagte Edward.
    Sewall schnaubte verächtlich. »Für ein oder zwei Tage. Bis das Fieber einsetzte.« Er fixierte Edward mit strengem Blick. »Sie wissen, was Pyämie ist, oder?«
    »Ja, Sir. Das ist eine Blutvergiftung.«
    »Wörtlich ›Eiter im Blut‹. Das war das schlimmste Fieber von allen, bei dem aus den Wunden große Mengen eines gelben Sekrets flossen. Nun, manche Chirurgen sind der Ansicht, die Bildung von Eiter sei ein gutes Zeichen und bedeute, dass der Körper im Begriff sei, sich selbst zu heilen. Aber ich bin vom Gegenteil überzeugt. Für mich ist Eiterbildung vielmehr ein Signal, dass man anfangen kann, den Sarg zu zimmern. Und wenn es nicht Pyämie war, dann waren es andere Gräuel. Gangrän. Wundrose. Tetanus.« Er sah die drei Studenten der Reihe nach an. »Hat einer von Ihnen je einen Wundstarrkrampf gesehen?«
    Alle drei schüttelten den Kopf.
    »Er beginnt mit einer Kiefersperre, wobei der Mund sich zu einem grotesken Grinsen verzieht, und setzt sich mit krampfartigen Beuge- und Streckbewegungen der Arme und Beine fort. Die Bauchmuskeln werden bretthart. Plötzlich einsetzende Krämpfe beugen den Rumpf mit solcher Gewalt nach hinten durch, dass dabei Knochen brechen können. Und die ganze Zeit ist der Betroffene bei Bewusstsein und leidet die fürchterlichsten Schmerzen.« Er stellte sein leeres Glas ab. »Die Amputation, meine Herren, ist nur der erste Schrecken. Es können sehr wohl weitere folgen.« Er sah die Studenten an. »Auf Ihren Freund Charles lauern noch große Gefahren. Ich habe nichts weiter getan, als das befallene Glied zu entfernen. Was im Weiteren geschieht, hängt von seiner Konstitution und seinem Lebenswillen ab. Und von der Vorsehung.«
    Oben hatte Eliza zu singen aufgehört, doch sie konnten die Dielen knarren hören, als sie in Charles’ Schlafzimmer auf und ab ging. Hin und her, hin und her. Wenn die Liebe einer
Mutter allein ein Kind retten könnte, dann gäbe es keine stärkere Medizin als die, welche Eliza ihrem Sohn jetzt mit jedem unruhigen Schritt, mit jedem bangen Seufzer verabreichte. Hat meine Mutter mit solcher Hingabe an meinem Krankenbett ausgeharrt? Norris hatte nur eine einzige blasse Erinnerung an einen Moment, als er kurz aus seiner Fiebertrance erwacht war und im Schein einer flackernden Kerzenflamme Sophia an seinem Bett erblickt hatte, die sich über ihn beugte und ihm übers Haar strich. »Mein geliebter Sohn, mein Ein und Alles«, hatte sie gemurmelt.
    Hast du das ernst gemeint? Und warum hast du mich dann an jenem Tag verla ssen ?
    Es klopfte an der Haustür. Sie hörten das Dienstmädchen den Flur entlangeilen, um zu öffnen, doch Dr. Grenville machte keine Anstalten, sich zu erheben. Die Erschöpfung fesselte ihn an seinen Sessel, und er saß reglos da, während er dem Wortwechsel an der Haustür lauschte.
    »Könnte ich Dr. Grenville sprechen?«
    »Es tut mir leid«, antwortete das Mädchen. »Wir haben einen schweren Krankheitsfall im Haus, und der Doktor kann keine Besucher empfangen. Wenn Sie Ihre Karte dalassen möchten, wird er vielleicht...«
    »Sagen Sie ihm, dass Mr. Pratt von der Nachtwache hier ist.«
    Grenville, der noch immer zusammengesunken in seinem Sessel saß, schüttelte müde den Kopf über den ungebetenen Besuch.
    »Ich bin sicher, dass er ein andermal gerne mit Ihnen sprechen wird«, sagte das Dienstmädchen.
    »Es wird nur eine Minute dauern. Diese Neuigkeit wird ihn interessieren.« Schon konnten sie das Trampeln von Pratts schweren Stiefeln im Haus hören.
    »Mr. Pratt, Sir!«, rief das Mädchen. »Bitte, wenn Sie nur so lange warten würden, bis ich den Doktor gefragt...«
    Pratt erschien in der Salontür und ließ den Blick über die im Raum versammelten Männer schweifen.

    »Dr. Grenville«, stammelte das Mädchen hilflos, »ich habe ihm gesagt, dass Sie keine Besucher empfangen!«
    »Es ist schon in Ordnung, Sarah«, erwiderte Grenville, während er sich erhob. »Offenbar ist Mr. Pratt der Ansicht, die Angelegenheit sei dringlich genug, um sein Eindringen zu rechtfertigen.«
    »Allerdings, Sir«, sagte Pratt. Seine Augen verengten sich, als er Norris fixierte. »Hier sind Sie also, Mr. Marshall. Ich habe Sie schon gesucht.«
    »Er war den

Weitere Kostenlose Bücher