Leichenraub
ganzen Nachmittag hier«, erklärte Grenville. »Mein Neffe ist schwer erkrankt, und Mr. Marshall war so freundlich, uns seine Hilfe anzubieten.«
»Ich habe mich schon gefragt, warum Sie nicht in Ihrer Wohnung waren«, sagte Pratt, den Blick immer noch auf Norris gerichtet, den eine plötzliche Panik erfasste. Hatte man Rose Connolly in seinem Zimmer entdeckt? Starrte Pratt ihn deswegen so an?
»Das ist also der Grund für diese Störung?«, fragte Grenville, der seine Verachtung kaum verbergen konnte. »Sie wollten sich lediglich nach Mr. Marshalls Verbleib erkundigen?«
»Nein, Doktor«, antwortete Pratt und wandte sich zu Grenville um.
»Was dann?«
»Sie haben es also noch nicht gehört?«
»Ich war den ganzen Tag mit meinem Neffen beschäftigt. Ich habe nicht einmal das Haus verlassen.«
»Heute Nachmittag«, sagte Pratt, »bemerkten zwei Jungen, die unter der West Boston Bridge spielten, einen Gegenstand im Schlamm, der wie ein Bündel Lumpen aussah. Als sie genauer hinsahen, stellten sie fest, dass es sich nicht um Lumpen, sondern um die Leiche eines Mannes handelte.«
»Unter der West Boston Bridge?«, fragte Dr. Sewall, der sich bei dieser beunruhigenden Neuigkeit in seinem Sessel aufgerichtet hatte.
»Ja, Dr. Sewall«, sagte Pratt. »Ich lade Sie ein, den Leichnam selbst in Augenschein zu nehmen. Sie werden nicht umhinkönnen,
aus den Verletzungen die gleichen Schlussfolgerungen zu ziehen wie ich. In der Tat scheint es mir ebenso wie Dr. Crouch klar zu sein -«
»Crouch hat die Leiche schon gesehen?«, fragte Grenville.
»Dr. Crouch war auf der Station, als die Leiche ins Krankenhaus gebracht wurde. Ein glücklicher Umstand, da er Agnes Poole ebenfalls untersucht hat. Er sah sofort die Ähnlichkeit der Verletzungen. Das eigenartige Muster der Schnitte.« Pratt sah Norris an. »Sie dürften wissen, wovon ich spreche, Mr. Marshall.«
Norris starrte ihn an. »In der Form eines Kreuzes?«, fragte er leise.
»Ja. Trotz der... Schäden ist das Muster offensichtlich.«
»Welche Schäden?«
»Ratten, Sir. Vielleicht auch andere Tiere. Es ist klar, dass die Leiche schon einige Zeit dort gelegen hatte. Und es ist logisch, anzunehmen, dass sein Tod mit dem Datum seines Verschwindens zusammenfiel.«
Es war, als sei die Temperatur im Raum plötzlich abgesackt. Obwohl niemand ein Wort sagte, konnte Norris an den betroffenen Mienen der anderen erkennen, dass sie alle begriffen hatten.
»Dann haben Sie ihn also gefunden«, sagte Grenville schließlich.
Pratt nickte. »Es handelt sich um die Leiche von Dr. Nathaniel Berry. Er ist nicht geflüchtet, wie wir alle angenommen hatten. Er wurde ermordet.«
24
Gegenwart
Julia blickte von Wendell Holmes’ Brief auf. »Hatte Holmes recht, Tom? Hatte dieser Fall von Kindbettfieber tatsächlich etwas mit Charles’ Blutvergiftung zu tun?«
Tom stand am Fenster und starrte aufs Meer hinaus. Der Nebel hatte sich an diesem Morgen zu lichten begonnen, und obwohl der Himmel immer noch grau war, konnten sie endlich das Wasser sehen. Vor einem Hintergrund aus silberfarbenen Wolken zogen Möwen vorüber. »Ja«, antwortete er leise. »Es gab mit ziemlicher Sicherheit einen Zusammenhang. Was er in seinem Brief schildert, gibt uns nur einen flüchtigen Eindruck von den wahren Schrecken des Kindbettfiebers.« Er setzte sich an den Esstisch, gegenüber von Julia und Henry, und das Licht, das durch das Fenster hinter seinem Rücken fiel, tauchte sein Gesicht in düstere Schatten. »Zu Holmes’ Zeit«, fuhr Tom fort, »war die Krankheit so verbreitet, dass ihr während einer Epidemie jede vierte Wöchnerin erlag. Sie starben so schnell, dass die Krankenhäuser zwei Leichen in einen Sarg packen mussten. Auf einer Entbindungsstation in Budapest konnten die Frauen, wenn sie in den Wehen lagen, durch das Fenster den Friedhof sehen und am Ende des Flurs den Sektionssaal. Kein Wunder, dass die Frauen panische Angst vor der Niederkunft hatten. Sie wussten, wenn sie ins Krankenhaus gingen, um ihr Kind zu bekommen, bestand ein beträchtliches Risiko, dass sie es in einem Sarg wieder verlassen würden. Und wissen Sie, was das Schlimmste daran ist? Sie wurden alle von ihren eigenen Ärzten umgebracht.«
»Sie meinen, durch deren Inkompetenz?«
»Durch Unwissenheit. Damals ahnte man noch nichts von der Keimtheorie. Niemand trug Handschuhe, und so untersuchten die Ärzte die Frauen mit bloßen Händen. Sie sezierten zuerst eine halb verfaulte, von Krankheitskeimen wimmelnde
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