Leichenraub
Leiche und gingen dann mit ihren dreckigen Händen direkt weiter auf die Wöchnerinnenstation. Dort untersuchten sie eine Patientin nach der anderen und verbreiteten so die Krankheit in der gesamten Bettenreihe. Sie töteten jede Frau, mit der sie in Berührung kamen.«
»Und keiner ist je auf die Idee gekommen, sich die Hände zu waschen?«
»In Wien gab es einen Arzt, der diesen Vorschlag machte. Es war ein Ungar namens Ignaz Semmelweis, dem auffiel, dass Patientinnen, die von Medizinstudenten behandelt wurden, eine viel höheres Risiko hatten, an Kindbettfieber zu sterben, als solche, die von Hebammen betreut wurden. Er wusste, dass die Studenten im Gegensatz zu den Hebammen an Autopsien teilnahmen. Er schloss daraus, dass irgendeine Art von Ansteckung sich vom Sektionssaal aus verbreitete. Und er riet allen seinen Kollegen, sich die Hände zu waschen.«
»Das klingt nur vernünftig.«
»Aber er wurde dafür verlacht.«
»Sie befolgten seinen Rat nicht?«
»Sie vertrieben ihn aus seinem Job. Schließlich verfiel er in so schwere Depressionen, dass er in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde. Wo er sich dann in den Finger schnitt und sich eine Blutvergiftung zuzog.«
»Wie Charles Lackaway.«
Tom nickte. »Eine Ironie der Geschichte, nicht wahr? Das ist es, was diese Briefe so wertvoll macht. Das ist Medizingeschichte, direkt aus der Feder eines der größten Ärzte aller Zeiten.« Er sah Julia über den Tisch hinweg an. »Das wissen Sie doch, oder? Warum Holmes solch ein Held der amerikanischen Medizin ist?«
Julia schüttelte den Kopf.
»Hier in den Vereinigten Staaten hatten wir noch nichts
von Semmelweis und seiner Keimtheorie gehört. Aber wir hatten es mit den gleichen Epidemien von Kindbettfieber zu tun, den gleichen erschreckenden Sterblichkeitsraten. Amerikanische Ärzte führten es auf schlechte Luft, mangelhafte Durchblutung oder gar so lächerliche Ursachen wie verletztes Schamgefühl zurück! Die Frauen starben reihenweise, und in ganz Amerika konnte niemand sich erklären, woran es lag.« Er sah auf den Brief hinunter. »Bis Oliver Wendell Holmes kam.«
25
1830
In eine Nische in einem Hauseingang gedrückt, wo sie wenigstens einigermaßen vor dem Wind geschützt war, blickte Rose über den Krankenhausanger hinweg, die Augen auf Norris’ Dachkammerfenster geheftet. Viele Stunden harrte sie hier schon aus, aber jetzt war die Dunkelheit hereingebrochen, und sie konnte sein Haus nicht mehr von den anderen unterscheiden, deren Dächer sich vor dem Nachthimmel abzeichneten. Warum war er nicht nach Hause gekommen? Was, wenn er heute Abend gar nicht mehr zurückkäme? Sie hatte auf eine zweite Nacht unter Norris’ Dach gehofft, auf eine zweite Chance, ihn zu sehen und seine Stimme zu hören. Heute Morgen beim Aufwachen hatte sie die Münzen gefunden, die er ihr dagelassen hatte – Geld, das Meggie eine weitere Woche vor Kälte und Hunger bewahren würde. Als Gegenleistung für seine Großzügigkeit hatte sie zwei seiner zerschlissenen Hemden geflickt. Auch wenn sie ihm nichts schuldig gewesen wäre, hätte sie es gerne getan, einfach nur, weil es ihr Freude machte, den Stoff zu berühren, der sich an seine Haut geschmiegt, der die Wärme seines Körpers angenommen hatte.
Sie sah Kerzenlicht in einem Fenster aufflackern. In seinem Fenster.
Sofort machte sie sich auf den Weg über den Anger. Diesmal wird er mir sicher bereitwillig zuhören, dachte sie. Inzwischen hatte er gewiss gehört, was passiert war. Vorsichtig schob sie die Tür seines Hauses auf und spähte hinein, um dann lautlos die zwei Treppen zum Dachgeschoss hinaufzusteigen. An seiner Tür hielt sie mit pochendem Herzen inne.
Klopfte es so stark, weil sie die Stufen zu schnell erklommen hatte? Oder weil sie gleich Norris wiedersehen würde? Sie zupfte sich das Haar zurecht und zog ihren Rock glatt, doch im nächsten Moment kam sie sich albern vor, weil sie sich all die Mühe für einen Mann machte, der sie keines zweiten Blickes würdigen würde. Warum sollte er Rose auch nur ansehen, nachdem er gestern Abend mit all diesen feinen Damen getanzt hatte?
Rose hatte einen kurzen Blick auf sie erhascht, als sie Dr. Grenvilles Haus verlassen hatten und in ihre Kutschen gestiegen waren, diese hübschen Mädchen mit ihren rauschenden Seidenkleidern, ihren Samtcapes und ihren Pelzmuffs. Sie hatte gesehen, wie achtlos sie ihre Rocksäume durch den schmutzigem Schnee gezogen hatten, aber natürlich waren nicht sie es, die
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