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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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hinterher die Flecken herauswaschen mussten. Sie hatten nicht wie Rose viele Stunden über Nadel und Faden gebeugt dagesessen und bei so schwachem Licht nähen müssen, dass ihre Augen eines Tages dauerhaft so verkniffen sein würden, als hätten sie Kräuselfalten in ihre eigene Haut genäht. Eine einzige Saison mit ihrer Folge von Abendgesellschaften und Bällen, und das armselige alte Kleid würde ohnehin ausgemustert werden, um für den letzten Schrei Platz zu machen, aus Gaze in den neuesten Modefarben. Verborgen in ihrem dunklen Winkel vor Dr. Grenvilles Haus, hatte Rose just das Kleid entdeckt, das sie selbst genäht hatte mit der rosaroten Seide. Es hatte ein junges Fräulein mit Apfelbäckchen geschmückt, das unentwegt kichernd in seiner Kutsche verschwunden war. Ist das die Art von Mädchen, die Sie vorziehen, Mr. Marshall? Denn da kann ich nicht mithalten.
    Sie klopfte. Kerzengerade und mit erhobenem Kinn stand sie da, als sie hörte, wie seine Schritte sich der Tür näherten. Plötzlich stand er vor ihr, im Lichtschein, der aus seinem Zimmer in das düstere Treppenhaus fiel. »Da sind Sie ja! Wo sind Sie gewesen?«
    Sie hielt verwirrt inne. »Ich dachte, ich sollte wegbleiben, bis Sie wieder da sind.«

    »Sie waren den ganzen Tag weg? Niemand hat Sie hier gesehen?«
    Seine Worte schmerzten sie wie ein Schlag ins Gesicht. Den ganzen Tag hatte sie sich nach seinem Anblick verzehrt, und das war seine Begrüßung? Ich bin das Mädchen, von dem niemand etwas wissen will, dachte sie. Das peinliche Geheimnis.
    »Ich bin nur wiedergekommen, um Ihnen zu sagen, was ich auf der Straße gehört habe. Dr. Berry ist tot. Man hat seine Leiche unter der West Boston Bridge gefunden.«
    »Ich weiß. Mr. Pratt hat es mir gesagt.«
    »Dann wissen Sie ja so viel wie ich. Gute Nacht, Mr. Marshall.« Sie wandte sich ab.
    »Wohin gehen Sie?«
    »Ich habe noch nicht zu Abend gegessen.« Und wahrscheinlich würde sie heute auch nichts mehr zwischen die Zähne bekommen.
    »Ich habe Ihnen etwas zu essen mitgebracht. Wollen Sie nicht bleiben?«
    Sie hielt auf dem Treppenabsatz inne, überrascht von seinem Angebot.
    »Bitte«, sagte er. »Kommen Sie doch herein. Hier ist jemand, der mit Ihnen sprechen möchte.«
    Sie war immer noch verletzt von seiner ersten Bemerkung, und der pure Stolz hätte sie fast bewogen, die Einladung auszuschlagen. Aber ihr Magen knurrte, und sie wollte unbedingt wissen, wer dieser Jemand war. Sie trat in die Dachkammer, und ihr Blick fiel auf den kleinen Mann, der am Fenster stand. Es war kein Fremder; sie erinnerte sich, ihn im Krankenhaus gesehen zu haben. Wendell Holmes war Medizinstudent wie Norris, aber sie registrierte sogleich die Unterschiede zwischen den beiden. Was ihr zuerst ins Auge fiel, war die bessere Qualität von Holmes’ Rock, der fachmännisch auf seine schmalen Schultern und seine schlanke Taille zugeschnitten war. Er hatte Augen wie ein Vogel, glänzend und hellwach, und während sie ihn betrachtete, war ihr bewusst,
dass er sie ebenso aufmerksam musterte und sie vorsichtig taxierte.
    »Das ist mein Kommilitone Mr. Oliver Wendell Holmes«, stellte Norris ihn vor.
    Der kleine Mann nickte. »Miss Connolly.«
    »Ich erinnere mich an Sie«, sagte sie. Weil sie aussehen wie ein kleiner Kobold. Aber sie glaubte nicht, dass ihm diese Bemerkung behagen würde. »Wollten Sie wirklich mit mir sprechen, Mr. Holmes?«
    »Ja, über den Tod von Dr. Berry. Sie haben davon gehört.«
    »Ich habe den Menschenauflauf an der Brücke gesehen. Die Leute erzählten mir, dass man die Leiche des Doktors gefunden habe.«
    »Diese neue Entwicklung macht das Bild wesentlich komplizierter«, sagte Wendell. »Morgen schon werden die Zeitungen die Panik in der Bevölkerung aufs Neue schüren. West End Reaper immer noch auf freiem Fuß! Wieder werden die Leute an allen Ecken Monster sehen. Das bringt Mr. Marshall in eine höchst unangenehme Lage. Vielleicht gar in eine gefährliche.«
    »Gefährlich?«
    »Wenn die Menschen verängstigt sind, neigen sie zu irrationalem Handeln. Sie könnten versuchen, sich selbst zum Richter aufzuschwingen.«
    »Aha«, sagte sie an Norris gewandt. »Deswegen sind Sie also plötzlich bereit, mich anzuhören. Weil es jetzt Sie betrifft.«
    Norris nickte reumütig. »Es tut mir leid, Rose. Ich hätte Ihnen gestern Abend mehr Beachtung schenken sollen.«
    »Sie haben sich ja schon geschämt, nur mit mir gesehen zu werden.«
    »Und jetzt schäme ich mich für mein Verhalten Ihnen

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