Leichenraub
sehr anstrengen.«
»Das Einzige, was ich bis jetzt angestrengt habe, ist meine Zunge.«
Wendell stand auf. »Wir müssen sowieso gehen.«
»Warte mal. Ihr habt mir noch gar nicht gesagt, warum ihr zu meinem Onkel gekommen seid.«
»Ach, das war nichts von Bedeutung. Es ging nur um diese Geschichte im West End.«
»Du meinst den Reaper?« Charles war plötzlich ganz Ohr. »Ich habe gehört, sie hätten Dr. Berrys Leiche gefunden.«
»Wer hat dir das gesagt?«, fuhr Eliza dazwischen.
»Die Mädchen haben sich darüber unterhalten.«
»Das hätten sie nicht tun dürfen. Du sollst dich doch nicht aufregen.«
»Ich rege mich ja gar nicht auf. Ich will doch wissen, was passiert ist.«
»Nicht heute Abend«, bestimmte Eliza knapp und beendete damit das Gespräch. »Ich bringe deine Freunde jetzt zur Tür.«
Sie begleitete Wendell und Norris die Treppe hinunter und zur Haustür. Als die beiden sich verabschiedeten, sagte sie: »Sosehr Charles sich über Ihre Besuche freuen mag, ich will
dennoch hoffen, dass Sie sich das nächste Mal auf angenehme und erbauliche Gesprächsthemen beschränken. Kitty und Gwen Welliver waren heute Nachmittag hier, und sie haben es geschafft, dass sein Zimmer die ganze Zeit von Lachen erfüllt war. Just das fröhliche Geplauder, das ihm guttut, gerade jetzt, da es auf Weihnachten zugeht.«
Aus dem Mund der hirnlosen Welliver-Schwestern? Da hätte Norris es vorgezogen, im Koma zu liegen. Doch er sagte nur: »Wir werden es uns merken, Mrs. Lackaway. Gute Nacht.«
Draußen blieben er und Wendell auf der Beacon Street stehen. In der kalten Luft bildete ihr Atem Wölkchen, während sie zusahen, wie ein einsames Pferd vorübertrappelte, gelenkt von einem Reiter, der gebeugt im Sattel saß, tief in seinem Mantel versunken.
»Dr. Grenville hat tatsächlich recht«, sagte Wendell. »Das Kind wäre hier bei ihm viel besser aufgehoben. Wir hätten sein Angebot annehmen sollen.«
»Darüber haben wir nicht zu bestimmen. Es ist Roses Entscheidung.«
»Hast du wirklich so grenzenloses Vertrauen in ihre Urteilsfähigkeit?«
»Ja, das habe ich.« Norris starrte die Straße entlang, wo Pferd und Reiter allmählich von der Dunkelheit verschluckt wurden. »Ich glaube, sie ist das klügste Mädchen, das ich je kennengelernt habe.«
»Du bist in sie vernarrt, gib’s zu!«
»Ich respektiere sie. Und ja, ich mag sie – wer täte das nicht? Sie hat ein sehr großes Herz.«
»Das nennt man vernarrt , Norris. Verhext. Verliebt.« Wendell seufzte wissend. »Und offensichtlich ist sie genauso vernarrt in dich.«
Norris runzelte die Stirn. »Was?«
»Hast du nicht bemerkt, wie sie dich ansieht, wie sie an deinen Lippen hängt, wenn du sprichst? Wie sie dein Zimmer aufgeräumt, deinen Mantel geflickt und alles Mögliche getan
hat, um dir eine Freude zu machen? Brauchst du noch eindeutigere Beweise dafür, dass sie in dich verliebt ist?«
»Verliebt?«
»Mach die Augen auf, Mann!« Wendell lachte und klopfte Norris auf die Schulter. »Ich muss über die Feiertage nach Hause fahren. Ich nehme an, du verbringst Weihnachten in Belmont?«
Norris war noch ganz perplex von dem, was Wendell gerade gesagt hatte. »Ja«, sagte er benommen. »Mein Vater erwartet mich.«
»Und was ist mit Rose?«
Ja, was war denn nun mit Rose?
Sie war Norris’ einziger Gedanke, nachdem er sich von Wendell verabschiedet hatte. Während er zu seiner Wohnung zurückging, fragte er sich, ob es wirklich stimmen konnte, was sein Freund gesagt hatte. Rose – verliebt in ihn? Er hatte nichts dergleichen wahrgenommen. Aber ich habe auch nie darauf geachtet.
Von der Straße aus konnte er das Kerzenlicht in seinem Dachfenster flackern sehen. Sie ist noch wach, dachte er, und plötzlich konnte er es nicht mehr erwarten, sie zu sehen. Er stieg die Treppe hinauf, und mit jeder Stufe wuchs seine Ungeduld. Als er schließlich die Tür öffnete, pochte sein Herz ebenso sehr vor Vorfreude wie vor Anstrengung.
Rose war am Schreibtisch eingeschlafen, den Kopf auf die gekreuzten Arme gebettet. Vor ihr lag aufgeschlagen Wistars Anatomie. Als er über ihre Schulter spähte, sah er, dass sie eine Abbildung des menschlichen Herzens betrachtet hatte. Was für ein außergewöhnliches Mädchen, dachte er. Die Kerze war bis auf eine kleine Wachspfütze niedergebrannt, also entzündete er eine neue. Als er behutsam das Anatomiebuch zuklappte, wachte Rose auf.
»Oh«, murmelte sie und hob den Kopf. »Sie sind zurück.«
Er sah zu, wie sie sich
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