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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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müssen nichts erklären.« Sie wandte sich ab. »Ich werde morgen früh verschwinden.«
    »Ja, das wirst du. Und zwar mit mir. Und du wirst endlich aufhören, mich Mr. Marshall zu nennen.«
    Sie fuhr zu ihm herum, die Augen vor Begeisterung weit aufgerissen. »Nach Belmont?«
    »Es ist der sicherste Ort für dich und das Kind. Da gibt es frische Milch für Meggie, und du wirst dein eigenes Bett haben. Dort wird euch niemand finden.«
    »Ich kann sie mitnehmen?«
    »Natürlich werden wir sie mitnehmen. Ich würde nicht im Traum daran denken, sie zurückzulassen.«
    Außer sich vor Freude flog sie in seine Arme. So zierlich sie war, hätte sie ihn doch um ein Haar umgerissen. Lachend fing er sie auf und wirbelte sie in der engen Kammer umher, und er spürte, wie ihr Herz an seinem Herzen vor Freude klopfte.
    Plötzlich löste Rose sich von ihm, und er sah den Zweifel in ihrer Miene. »Aber was wird dein Vater zu mir sagen, Norrie?«, fragte sie. »Und zu Meggie?«
    Er konnte sie nicht anlügen, schon gar nicht, wenn sie ihm so unverwandt in die Augen blickte. »Ich weiß es nicht«, antwortete er.

28
    Es war nach drei, als der Bauer seinen Wagen auf der Straße nach Belmont anhielt und die beiden absteigen ließ. Sie hatten immer noch zwei Meilen Fußmarsch vor sich, aber der Himmel war blau, und der mit einer Eiskruste überzogene Schnee glitzerte hell wie Glas in der Nachmittagssonne. Während sie die Straße entlangstapften, Rose mit der kleinen Meggie auf dem Arm, erklärte Norris ihr, welche Felder welchem Nachbarn gehörten. Er würde sie ihnen allen vorstellen, und sie würden ihr alle zu Füßen liegen. Das heruntergekommene Haus dort drüben gehörte dem alten Ezra Hutchinson, dessen Frau vor zwei Jahren an Typhus gestorben war, und die Kühe im angrenzenden Feld waren die der Witwe Heppy Comfort, die ein Auge auf Ezra geworfen hatte, nachdem er nun wieder zu haben war. Das gepflegte Haus auf der anderen Straßenseite gehörte Dr. und Mrs. Hallowell, dem kinderlosen Paar, das immer so gut zu Norris gewesen und bei dem er stets willkommen gewesen war, als gehörte er zur Familie. Dr. Hallowell hatte Norris seine Bibliothek zur Verfügung gestellt, und letztes Jahr hatte er ihm ein glänzendes Empfehlungsschreiben für das Medizinische College ausgestellt. Rose nahm all diese Informationen mit einer Miene auf, die lebhaftes Interesse bekundete, selbst die banalen Details über Heppys lahmendes Kalb und Dr. Hallowells ausgefallene Sammlung deutscher Gesangbücher. Je mehr sie sich der Marshall-Farm näherten, desto schneller und ungeduldiger kamen ihre Fragen, als ob sie geradezu darauf brannte, sein Leben in allen Einzelheiten zu erforschen, bevor sie ankamen. Als sie die Kuppe erklommen hatten und die Farm am Horizont auftauchte, blieb sie stehen und hielt die Hand über die Augen, um sich vor der Sonne zu schützen, während sie in die Ferne starrte.

    »Es ist nichts Besonderes«, gab er zu.
    »Doch, Norris, das ist es. Du bist schließlich dort aufgewachsen.«
    »Ich konnte es nicht erwarten, all dem zu entfliehen.«
    »Ich hätte absolut nichts dagegen, hier zu leben.« Meggie war auf Roses Arm aufgewacht und gab ein zufriedenes Gurgeln von sich. Rose lächelte ihre Nichte an und sagte: »Ich könnte auf einer Farm glücklich sein.«
    Er lachte. »Das gefällt mir so an dir, Rose. Ich glaube, du könntest überall glücklich sein.«
    »Auf das Wo kommt es gar nicht an.«
    »Bevor du jetzt sagst, sondern auf die Menschen, mit denen man zusammenlebt , musst du erst mal meinen Vater kennenlernen.«
    »Ich fürchte mich regelrecht davor. So, wie du über ihn redest.«
    »Er ist ein verbitterter Mann. Das musst du einfach vorher wissen.«
    »Weil er deine Mutter verloren hat?«
    »Sie hat ihn verlassen. Sie hat uns beide verlassen. Er hat ihr das nie verziehen.«
    »Und du?«, fragte sie und sah ihn an. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet.
    »Es wird schon spät«, sagte er.
    Sie gingen weiter, während die Sonne tiefer sank und die kahlen Baumkronen filigrane Schattenmuster auf den Schnee malten. Bald waren sie an der alten Steinmauer angelangt und hörten schon die Kühe im Stall muhen. Als sie auf das Haus zugingen, hatte Norris den Eindruck, dass es kleiner und bescheidener wirkte, als er es in Erinnerung hatte. Waren die Schindeln schon so verwittert gewesen, als er vor gerade einmal zwei Monaten nach Boston aufgebrochen war? Hatte die Veranda immer schon in der Mitte durchgehangen, und war der Zaun

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