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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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streckte und den Kopf in den Nacken legte. Das Haar fiel ihr dabei lose über den Rücken. Als er in ihr Gesicht blickte, sah er nichts Gekünsteltes darin, keine
Falschheit, nur ein Mädchen, das benommen den Schlaf abzuschütteln versuchte. Das Umschlagtuch, das sie sich um die Schultern gelegt hatte, war aus grober, graubrauner Wolle, und als sie sich mit der Hand über die Wange wischte, verschmierte sie ein wenig Asche auf der Haut. Er musste daran denken, wie vollkommen anders sie war als die Welliver-Schwestern mit ihren Seidenkleidern, ihren hübschen Fransenschals und ihren eleganten Schühchen aus Saffianleder. Wenn er in der Gesellschaft dieser Schwestern war, hatte er nicht einen Moment lang das Gefühl, sie wirklich so zu sehen, wie sie waren – so geschickt spielten sie das unaufrichtige Spiel der Koketterie. Ganz anders als dieses Mädchen, das ganz ungeniert gähnte und sich die Augen rieb, wie ein Kind, das aus dem Mittagsschlaf erwacht.
    Sie sah zu ihm auf. »Haben Sie es ihm erzählt? Was hat er dazu gesagt?«
    »Dr. Grenville behält sich sein Urteil vor. Er will die Geschichte von Ihnen selbst hören.« Er beugte sich zu ihr herab und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Rose, er hat ein großzügiges Angebot gemacht, von dem Wendell und ich glauben, dass es das Beste wäre. Dr. Grenville hat sich erboten, Meggie zu sich zu nehmen.«
    Sie erstarrte. Statt Dankbarkeit sah er Panik in ihren Augen aufblitzen. »Sagen Sie mir, dass Sie dem nicht zugestimmt haben!«
    »Es wäre so viel besser für sie. Sicherer und gesünder.«
    » Sie hatten kein Recht dazu! « Rose sprang auf. Als Norris in ihre Augen starrte, sah er darin die unverfälschte, kämpferische Entschlossenheit eines Mädchens, das für einen geliebten Menschen alles opfern würde. Eines Mädchens, dessen Treue so unverbrüchlich war, dass sie für das Leben ihrer Nichte alles auf sich genommen hätte. »Sie haben ihm Meggie gegeben?«
    »Rose, ich würde niemals Ihr Vertrauen missbrauchen!«
    »Sie haben nicht das Recht, sie wegzugeben!«
    »Hören Sie mich an. Bitte !« Er nahm ihre Hände und zwang
sie, ihm in die Augen zu sehen. »Ich habe ihm gesagt, dass Sie es sind, die das entscheiden wird. Ich habe ihm gesagt, dass ich nur das tun werde, was Sie wollen. Ich folge Ihren Anweisungen, Rose, was immer es ist, das Sie wünschen. Sie wissen es am besten, und ich will nur, dass Sie glücklich sind.«
    »Ist das Ihr Ernst?«, flüsterte sie.
    »Ja. Mein voller Ernst.«
    Sie starrten einander eine Weile schweigend an. Plötzlich schimmerten Tränen in ihren Augen, und sie riss sich von ihm los. Wie zierlich sie ist, dachte er. Wie zerbrechlich. Und doch hat diese junge Frau die Last der Welt auf ihren Schultern getragen und ihre Verachtung ertragen. Sie ist ein recht hübsches Mädchen , hatte Wendell gesagt. Als er sie jetzt betrachtete, sah Norris eine unverfälschte, ehrliche Schönheit, die auch noch durch die Ascheflecken auf ihren Wangen hindurchschien, eine Schönheit, an die die Welliver-Schwestern nie heranreichen würden. Sie waren nichts als zwei alberne Prinzesschen in Satinkleidern. Dieses Mädchen besaß so wenig, und doch hatte sie diesen einfältigen Billy unter ihre Fittiche genommen. Sie hatte alles zusammengekratzt, was sie hatte, um eine anständige Beerdigung für ihre Schwester zu bezahlen und ihre Nichte zu ernähren.
    Das ist ein Mädchen, das zu mir stehen wird. Auch wenn ich es nicht verdient habe.
    »Rose«, sagte er, »es ist Zeit, dass wir uns über die Zukunft unterhalten.«
    »Die Zukunft?«
    »Was mit Ihnen und Meggie geschehen soll. Ich muss aufrichtig sein: Meine Aussichten am College sind trübe. Ich weiß nicht, ob ich mir dieses Zimmer weiterhin werde leisten können, ganz zu schweigen vom Unterhalt für uns alle.«
    »Sie wollen, dass ich gehe.« So, wie sie es sagte, war es eine schlichte Feststellung; als wäre keine andere Schlussfolgerung denkbar. Wie leicht sie es ihm machte, sie einfach fortzuschicken. Wie großzügig sie ihn von jeglicher Schuld freisprach.

    »Ich will, dass Sie in Sicherheit sind«, sagte er.
    »Ich werde schon nicht zusammenbrechen, Mr. Marshall. Ich kann mit der Wahrheit leben. Sagen Sie sie mir einfach.«
    »Morgen fahre ich heim nach Belmont. Mein Vater erwartet mich zu Weihnachten. Ich fürchte, es wird keine allzu lustige Zeit werden. Mein Vater hält nicht viel von Feiern, und ich werde die Tage wahrscheinlich mit allerhand Arbeiten auf dem Hof verbringen.«
    »Sie

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