Leichenraub
meinen Freunden allein zu lassen? Es kommt mir vor, als hätte ich sie eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«
»Ich nehme das als ein Zeichen, dass es dir besser geht.«
Eliza stand auf. »Meine Herren, bitte überanstrengen Sie ihn nicht. Ich schaue in einer Weile wieder nach dir, Schatz.«
Charles wartete, bis seine Mutter das Zimmer verlassen hatte, und stieß dann einen genervten Seufzer aus. »Mein Gott, sie erdrückt mich mit ihrer Fürsorge!«
»Geht es dir wirklich besser?«, fragte Norris.
»Mein Onkel sagt, sämtliche Anzeichen seien gut. Ich hatte seit Dienstag kein Fieber mehr. Dr. Sewall hat sich die Wunde heute Morgen angesehen und war sehr zufrieden.« Er betrachtete sein bandagiertes Handgelenk und sagte: »Er hat mir das Leben gerettet.«
Auf die Erwähnung von Dr. Sewalls Namen reagierten Wendell und Norris mit Schweigen.
»So«, meinte Charles, und seine Miene hellte sich auf, als er seine Freunde betrachtete, »und nun erzählt mal: Was gibt es Neues?«
»Wir vermissen dich am College«, sagte Norris.
» Charlie die Mimose ? Kein Wunder, dass ihr mich alle vermisst. Denn schließlich kann sich jeder darauf verlassen, dass er im Vergleich zu mir immer eine glänzende Figur machen wird.«
»Jetzt, wo du den ganzen Tag im Bett liegen musst, hast du doch alle Zeit der Welt zum Lernen«, sagte Wendell. »Wenn du wiederkommst, wirst du uns alle in den Schatten stellen.«
»Du weißt, dass ich nicht wiederkommen werde.«
»Natürlich wirst du das.«
»Wendell«, sagte Norris leise. »Es ist doch besser, ehrlich zu sein, findest du nicht?«
»Wirklich, das wird sich alles noch zum Besten wenden«, sagte Charles. »Ich bin einfach nicht zum Arzt geboren. Das weiß jeder. Ich habe weder das Talent noch das Interesse. Es ging immer nur um die Hoffnungen meines Onkels, um seine Erwartungen. Ich bin anders als ihr. Ihr könnt euch glücklich schätzen, dass ihr immer genau gewusst habt, was ihr machen wollt.«
»Und was willst du machen, Charlie?«, fragte Norris.
»Frag Wendell. Er weiß es.« Charles deutete auf seinen Jugendfreund. »Wir waren beide Mitglieder des Literaturclubs von Andover. Er ist nicht der Einzige, der zu plötzlichen lyrischen Ergüssen neigt.«
Norris lachte verblüfft auf. »Du willst Dichter werden?«
»Mein Onkel hat es noch nicht akzeptiert, aber jetzt wird er es müssen. Und warum sollte ich auch nicht die Schriftstellerlaufbahn wählen? Denk nur an Johnny Greenleaf Whittier. Er hat schon erste Erfolge mit seinen Gedichten. Und dann dieser junge Autor aus Salem, Mr. Hawthorne. Der ist nur ein paar Jahre älter als ich, und ich wette, er wird sich schon bald einen Namen machen. Warum sollte ich mich nicht dem widmen, woran mein Herz hängt?« Er sah Wendell an. »Wie hast du es einmal genannt? Diesen Drang zum Schreiben?«
»Der berauschende Genuss des Schreibens.«
»Ja, das ist es! Der berauschende Genuss!« Charles seufzte. »Gewiss, seinen Lebensunterhalt kann man damit kaum verdienen.«
»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du dir darüber keine großen Gedanken machen musst«, meinte Wendell trocken, indem er sich in dem luxuriös ausgestatteten Schlafzimmer umsah.
»Das Problem ist, dass mein Onkel der Meinung ist, Gedichte und Romane seien nur ein frivoler Zeitvertreib, ohne jede wahre Bedeutung.«
Wendell nickte verständnisvoll. »Das könnte auch von meinem Vater stammen.«
»Bist du denn nie versucht, ihn zu ignorieren? Und dich ihm zum Trotz für die Schriftstellerlaufbahn zu entscheiden?«
»Aber ich habe keinen reichen Onkel. Und ich habe eigentlich auch Gefallen an der Medizin gefunden. Sie liegt mir.«
»Nun, mir hat sie nie gelegen. Und jetzt wird mein Onkel das akzeptieren müssen.« Er blickte auf seinen Armstumpf.
»Es gibt nichts Nutzloseres als einen einhändigen Chirurgen.«
»Ah, aber ein einarmiger Dichter! Du wirst eine höchst romantische Figur abgeben.«
»Welche Lady wird mich schon haben wollen?«, fragte Charles betrübt. »Jetzt, wo ich eine Hand verloren habe?«
Wendell tätschelte seinem Freund die Schulter. »Charlie, jetzt hör mir mal zu. Jede Lady, die es wert ist, dass du ihre Bekanntschaft machst und dich in sie verliebst, wird sich keinen Deut um deine fehlende Hand scheren.«
Knarrende Schritte auf dem Flur kündigten Elizas Rückkehr an. »Meine Herren«, sagte sie, »ich glaube, er braucht jetzt seine Ruhe.«
»Mutter, wir haben uns noch so viel zu erzählen!«
»Dr. Sewall sagt, du darfst dich nicht zu
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