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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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immer so schief gewesen? Je näher sie kamen, desto schwerer schien die Pflicht auf seinen Schultern zu lasten, und desto mehr graute ihm vor dem bevorstehenden Wiedersehen.
Schon bedauerte er, Rose und das Baby in die Sache hineingezogen zu haben. Er hatte sie zwar vorgewarnt, dass sein Vater recht unangenehm sein konnte, doch das schien sie nicht zu schrecken: Fröhlich marschierte sie neben ihm her, während sie Meggie etwas ins Ohr summte. Wie konnte irgendein Mann, und sei es auch sein Vater, dieses Mädchen nicht ins Herz schließen? Sicherlich werden sie und das Baby ihn mit ihrem Charme bezaubern, dachte er. Rose wird ihn für sich gewinnen, so wie sie mich für sich gewonnen hat, und wir werden beim Abendbrot sitzen und miteinander lachen. Ja, es könnte ein guter Besuch werden, und Rose war sein Glücksbringer. Mein irisches Glückskind. Er sah sie an, und gleich wurde sein Herz leichter, weil sie sich so darüber zu freuen schien, mit ihm hier zu sein. Und so marschierten sie weiter, immer an dem schiefen Zaun entlang, auf das Haus zu, das ihm mit jedem Schritt trostloser und verwahrloster vorkam.
    Durch das windschiefe Tor traten sie in einen Hof, in dem ein zerbrochener Wagen herumstand, daneben ein Stapel Brennholz, das noch darauf wartete, zu Scheiten gehackt zu werden. Die Welliver-Schwestern würden beim Anblick dieses Hofes vor Schreck erbleichen, und er malte sich aus, wie sie versuchten, durch den von Schweinen aufgewühlten Matsch zu trippeln, ohne ihre feinen Schühchen zu ruinieren. Rose zögerte nicht eine Sekunde; sie raffte einfach ihren Rock und folgte Norris über den Hof. Die alte Sau, aufgeschreckt durch den ungewohnten Besuch, grunzte und trottete in Richtung Stall davon.
    Noch bevor sie die Veranda erreichten, ging die Tür auf, und Norris’ Vater kam heraus. Isaac Marshall hatte seinen Sohn seit zwei Monaten nicht mehr gesehen, doch er rief ihm keinen Willkommensgruß entgegen, sondern blieb schweigend auf der Veranda stehen und sah zu, wie seine Besucher näher kamen. Er trug dieselbe schlichte Jacke, dieselbe graue Wollhose wie immer, doch die Kleider schlackerten jetzt um seine dürren Glieder, und die Augen, die unter dem verbeulten
Hut hervorspähten, waren tiefer in ihre Höhlen gesunken. Er brachte nur die Andeutung eines Lächelns zustande, als Norris die Stufen erklomm.
    »Willkommen zu Hause«, sagte Isaac, doch er machte keine Anstalten, seinen Sohn zu umarmen.
    »Vater, darf ich dir Rose vorstellen? Sie ist eine Freundin von mir. Und das ist ihre Nichte Meggie.«
    Rose trat lächelnd einen Schritt vor, und das Baby gurrte wie zur Begrüßung. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Marshall«, sagte Rose.
    Isaac hielt die Arme stur an seiner Seite und kniff die Lippen zusammen. Norris sah Rose erröten, und er hatte das Gefühl, dass er seinen Vater noch nie so gehasst hatte wie in diesem Moment.
    »Rose ist eine sehr gute Freundin«, sagte Norris. »Ich wollte, dass du sie kennenlernst.«
    »Wird sie über Nacht bleiben?«
    »Ich hatte gehofft, sie könnte länger bleiben. Sie und das Baby brauchen für eine Weile ein Dach über dem Kopf. Sie kann im oberen Zimmer schlafen.«
    »Dann muss das Bett für sie gemacht werden.«
    »Das kann ich übernehmen, Mr. Marshall«, sagte Rose. »Es macht mir gar keine Mühe. Und ich bin sehr fleißig! Es gibt keine Arbeit, die ich nicht machen kann.«
    Isaac betrachtete eingehend das Baby. Mit einem widerwilligen Nicken machte er sodann kehrt und ging ins Haus. »Dann sollte ich wohl besser schauen, dass genug fürs Abendessen da ist.«
     
    »Es tut mir leid, Rose. Es tut mir so leid.«
    Sie saßen auf dem Heuboden, neben sich die friedlich schlummernde Meggie, und blickten im schummrigen Licht der Laterne auf die Kühe hinab, die unten fraßen. Auch die Schweine hatten sich in den Stall zurückgezogen und balgten sich grunzend um die besten Schlafplätze zwischen den Strohballen. An diesem Abend fühlte Norris sich hier, wo die
Luft vom Geruch und den Geräuschen des Viehs erfüllt war, wohler als in Gesellschaft dieses schweigenden Mannes in seinem stillen Haus. Isaac hatte kaum gesprochen während ihres Weihnachtsessens, das aus Schinken, Salzkartoffeln und Steckrüben bestanden hatte; er hatte nur ein paar Fragen zu Norris’ Studium gestellt, und die Antworten hatten ihn offensichtlich gleichgültig gelassen. Die Farm war das Einzige, was ihn interessierte, und wenn er selbst einmal etwas sagte, dann ging es nur um den Zaun, der

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