Leichenraub
repariert werden musste, um die schlechte Qualität des Heus in diesem Herbst oder um die Faulheit des neuen Hilfsarbeiters. Rose hatte direkt gegenüber von Isaac gesessen, doch sie hätte ebenso gut unsichtbar sein können, denn er hatte sie kaum angesehen, es sei denn, wenn er ihr das Essen reichte.
Und sie war so klug gewesen, den Mund zu halten.
»So ist er schon immer gewesen«, sagte Norris und starrte zu den Schweinen hinunter, die im Stroh wühlten. »Ich hätte mir denken können, dass sich nichts geändert hat. Ich hätte dir das nicht antun sollen.«
»Ich bin froh, dass ich gekommen bin.«
»Es muss doch eine Tortur für dich gewesen sein heute Abend.«
»Du bist der Einzige, der mir leidtut.« Das Licht der Laterne fiel auf ihr Gesicht, und im Halbdunkel der Scheune sah Norris weder ihr geflicktes Kleid noch ihr zerschlissenes Umschlagtuch; er sah nur dieses Gesicht, die Augen, die ihn so unverwandt anblickten. »Das ist ein trauriges Haus, in dem du aufgewachsen bist«, sagte sie. »Kein Zuhause, wie ein Kind es braucht.«
»Es war nicht immer so. Ich will nicht, dass du denkst, ich hätte so eine trostlose Kindheit gehabt. Es gab auch gute Zeiten.«
»Wann ist es anders geworden? War es, nachdem deine Mutter euch verlassen hatte?«
»Danach war nichts mehr wie vorher.«
»Wie könnte es auch? Das ist eine furchtbare Sache, wenn
man allein gelassen wird. Schlimm genug, wenn ein geliebter Mensch stirbt. Aber jemanden aus freien Stücken zu verlassen...« Sie brach ab, holte tief Luft und schaute in den Koben hinab. »Ich habe den Geruch eines Stalls immer schon gemocht. Alles, die Tiere, das Heu, den Gestank. Es ist ein guter, ein ehrlicher Geruch, ja wirklich.«
Er starrte ins Dunkel. Die Schweine hatten jetzt aufgehört zu wühlen und sich leise grunzend zum Schlafen aneinandergeschmiegt. »Wer hat dich im Stich gelassen, Rose?«, fragte er.
»Niemand.«
»Du hast davon gesprochen, dass jemand dich verlassen hätte.«
» Ich bin diejenige, die das getan hat«, erwiderte sie und schluckte. »Ich war es, die fortging. Was war ich doch für eine Närrin! Nachdem Aurnia nach Amerika gegangen war, bin ich ihr gefolgt. Weil ich es nicht erwarten konnte, erwachsen zu sein. Ich konnte es nicht erwarten, die Welt zu sehen.« Sie seufzte schwer und fuhr mit tränenerstickter Stimme fort: »Ich glaube, ich habe meiner Mutter das Herz gebrochen.«
Er musste nicht nachfragen; schon an der Art, wie sie in tiefem Schmerz den Kopf senkte, erriet er, dass ihre Mutter nicht mehr lebte.
Dann setzte sie sich auf und sagte mit fester Stimme: »Ich werde nie mehr irgendjemanden im Stich lassen. Niemals.«
Er nahm ihre Hand, und die Berührung kam ihm so vertraut vor, als hätten sie sich schon immer an den Händen gehalten, als hätten sie schon immer hier in diesem schummrigen Stall gesessen und einander ihre Geheimnisse anvertraut.
»Ich verstehe, warum dein Vater so verbittert ist«, sagte sie. »Er hat jedes Recht dazu.«
Lange nachdem Rose Meggie ins Bett gebracht und sich schlafen gelegt hatte, saßen Norris und Isaac noch am Küchentisch zusammen. Zwischen ihnen standen eine brennende Lampe und ein Krug Apfelbranntwein. Norris hatte nur ein
paar Schlucke getrunken, doch sein Vater hatte den ganzen Abend Branntwein in sich hineingeschüttet, mehr als Norris ihn je hatte trinken sehen. Wieder goss er sich ein Glas ein, und seine Hand zitterte, als er den Krug verkorkte.
»Also, was hast du nun mit diesem Mädchen?«, fragte Isaac und blinzelte mit trüben Augen über den Rand seines Glases hinweg.
»Das habe ich dir doch schon gesagt – sie ist eine Freundin.«
»Ein Mädchen? Was bist du denn – ein Weichling? Kannst du dir keine richtigen Freunde suchen, wie ein normaler Mann?«
»Was hast du denn gegen sie? Ist es, weil sie ein Mädchen ist? Oder weil sie Irin ist?«
»Hat sie ein Balg im Bauch?«
Norris starrte seinen Vater ungläubig an. Das ist nur der Branntwein. Das kann er nicht ernst meinen.
»Ha. Du weißt es nicht einmal.«
»Du hast kein Recht, solche Dinge über sie zu sagen. Du kennst sie ja gar nicht.«
»Wie gut kennst du sie denn?«
»Ich habe sie nicht angerührt, falls du das meinst.«
»Das heißt nicht, dass sie nicht schon schwanger ist. Und dann hat sie auch noch ein Balg am Bein! Wenn du dich mit der einlässt, nimmst du einem anderen Mann die Verantwortung ab!«
»Ich hatte gehofft, dass sie hier willkommen wäre. Ich hatte gehofft, du würdest lernen, sie
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