Leichenraub
Ihnen der Prozess gemacht werden wird.« Pratt nickte dem anderen Wachmann zu. »Bringen Sie ihn raus.«
Norris wurde abgeführt. Sie waren gerade an der Tür angelangt, als er Rose rufen hörte: »Norris?«
Er drehte sich um und fing ihren entsetzten Blick auf. »Geh zu Dr. Grenville! Sag ihm, was passiert ist!«, konnte er ihr noch zurufen. Gleich darauf wurde er in die Nacht hinausgestoßen.
Seine Häscher verfrachteten ihn in die Kutsche, und Pratt gab dem Kutscher ein Zeichen, indem er zweimal fest an das Dach schlug. Sie fuhren los, über die Straße nach Belmont und weiter Richtung Boston.
»Auch Ihr Dr. Grenville kann Sie jetzt nicht mehr schützen«, sagte Pratt. »Nicht angesichts dieser Beweise.«
»Welcher Beweise?«
»Können Sie sich das nicht denken? Ein gewisser Gegenstand in Ihrem Zimmer?«
Norris schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«
»Der Krug, Mr. Marshall. Es erstaunt mich, dass Sie so etwas aufheben.«
Der andere Wachmann, der ihnen gegenüber saß, starrte Norris an und murmelte: »Sie sind ein perverses Schwein.«
»Es kommt nicht jeden Tag vor, dass man einen Whiskeykrug findet, in dem ein menschliches Gesicht herumschwimmt«, sagte Pratt. »Und für den Fall, dass es noch irgendwelche Zweifel geben sollte, haben wir auch Ihre Maske gefunden. Noch mit Blut bespritzt. Da haben Sie ein ganz schönes Hasardspiel mit uns getrieben, was? Uns genau die Maske zu beschreiben, die Sie selbst getragen haben?«
Die Maske des Reapers? Jemand muss sie in mein Zimmer geschafft haben.
»Ich schätze, das bedeutet den Galgen für Sie«, sagte Pratt.
Der andere Wachmann lachte in sich hinein, als freute er sich schon auf eine gelungene Hinrichtung – genau das richtige Amüsement für die trüben Wintermonate. »Und dann können Ihre feinen Medizinerkollegen sich über Sie hermachen«, fügte er hinzu. Trotz des Halbdunkels, das im Innern der Kutsche herrschte, konnte Norris sehen, wie sich der Mann mit dem Finger am Brustbein entlangfuhr, eine Geste, die keiner Interpretation bedurfte. Viele Leichen gelangten auf heimlichen und verschlungenen Wegen auf die Seziertische der Anatomen. Sie wurden im Schutz der Nacht aus Gräbern ausgebuddelt, von »Auferstehungsmännern«, die bei jedem ihrer nächtlichen Beutezüge zum Friedhof das Risiko einer Verhaftung eingingen. Doch die Leichen hingerichteter Sträflinge wanderten direkt in den Sektionssaal, mit voller Billigung des Gesetzes. Für ihre Verbrechen bezahlten die Verurteilten nicht nur mit ihrem Leben, sondern auch mit ihren sterblichen Überresten. Jeder Gefangene, der auf dem Schafott stand, wusste, dass die Hinrichtung nicht die letzte
Demütigung war; danach wartete das Messer des Präparators auf ihn.
Norris dachte an den alten Paddy, den Toten, dessen Brustkorb sie aufgebrochen hatten, dessen bluttriefendes Herz er in den Händen gehalten hatte. Wer würde Norris’ Herz halten? Wessen Schürze würde mit seinem Blut bespritzt werden, wenn seine Organe in den Eimer klatschten?
Durch das Kutschfenster sah er mondbeschienene Felder, die vertrauten Höfe entlang der Straße nach Belmont, an denen er auf der Fahrt nach Boston jedes Mal vorbeikam. Nun würde er sie nie wieder sehen; zum letzten Mal erblickte er die ländliche Gegend, der er seine ganze Kindheit lang zu entkommen getrachtet hatte. Er war ein Narr gewesen, wenn er geglaubt hatte, dass ihm das je gelingen würde; und dies war seine Strafe.
Die Straße führte sie von Belmont nach Osten, und aus den Gehöften wurden Dörfer, je mehr sie sich Boston näherten. Schon konnte er den Charles River sehen, ein glitzerndes Band im Mondschein, und er erinnerte sich an den Abend, als er am Ufer entlanggegangen war und über den Fluss hinweg zum Gefängnis geblickt hatte. An jenem Abend hatte er sich glücklich geschätzt, verglichen mit den armen Seelen, die dort hinter Gittern saßen. Jetzt würde er ihnen Gesellschaft leisten, und nur der Henker würde ihn dort wieder herausholen.
Die Räder der Kutsche ratterten über die West Boston Bridge, und Norris wusste, dass sie fast am Ende ihrer Reise angelangt waren. Wenn sie erst einmal auf der anderen Seite wären, müssten sie nur noch ein kurzes Stück die Cambridge Street hinauffahren und dann nach Norden abbiegen, wo das Stadtgefängnis lag. Der West End Reaper, endlich gefasst. Pratts Gehilfe grinste triumphierend, und seine Zähne schimmerten weiß in der Dunkelheit.
»Brr! Brr, halt!«,
Weitere Kostenlose Bücher