Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
hochgestecktem Haar und einem Blick, in dem Weisheit lag. Sie stand inmitten von Wiesenblumen und blickte hinunter zu einem Bach am Fuß des Hangs. Es war der gleiche sanft abfallende Hang, der eines Tages Julias Garten werden würde, und an diesem Sommertag wogte das lange Gras im Wind wie Meereswellen, und Löwenzahnsamen wirbelten im goldenen Dunst. Rose drehte sich um, und dort, umwuchert von Gras und Unkraut, bezeichneten verfallene Mauerreste die Stelle, wo einst ein anderes Haus gestanden hatte; ein Haus, das jetzt bis auf die Grundmauern niedergebrannt war.
    Über die Kuppe kam ein kleines Mädchen gelaufen, mit flatternden Röcken, das lächelnde Gesicht von der Hitze gerötet.
Sie flog auf Rose zu, die sie in die Arme schloss und lachend herumwirbelte.
    »Noch mal! Noch mal!«, rief das Mädchen, als Rose sie wieder absetzte.
    »Nein, deiner Tante ist schon ganz schwindlig.«
    »Können wir den Hang runterrollen?«
    »Sieh mal, Meggie.« Rose deutete zum Bach hinunter. »Ist das nicht ein hübsches Plätzchen? Was meinst du?«
    »Da sind Fische im Wasser, und Frösche.«
    »Es ist ein idealer Platz, findest du nicht? Eines Tages solltest du hier dein Haus bauen. Genau an dieser Stelle.«
    »Und was ist mit dem alten Haus da oben?«
    Rose sah hinauf zu den verkohlten Grundmauern nahe der Hügelkuppe. »Das hat einem großen Mann gehört«, sagte sie leise. »Es ist abgebrannt, als du erst zwei Jahre alt warst. Vielleicht werde ich dir eines Tages von ihm erzählen, wenn du älter bist. Von all dem, was er für uns getan hat.« Rose holte tief Luft und blickte zum Bach hinunter. »Ja, das hier ist eine schöne Stelle, um ein Haus zu bauen. Die musst du dir merken.« Sie nahm das Mädchen bei der Hand. »Komm. Die Köchin wartet sicher schon mit dem Mittagessen auf uns.«
    Und so marschierten sie los, die Tante und ihre Nichte, und ihre Röcke raschelten im Gras, als sie zusammen den Hang hinaufstapften, bis sie die Kuppe überschritten hatten und nur noch Roses kastanienbraunes Haar über dem schwankenden Gras aufblitzte.
    Als Julia aufwachte, hatte sie Tränen in den Augen. Das war mein Garten. Rose und Meggie sind durch meinen Garten gegangen.
    Sie stand auf und trat ans Fenster, wo das rosige Licht der Morgendämmerung sie begrüßte. Endlich waren die letzten Wolken verschwunden, und zum ersten Mal sah sie die Sonne auf Penobscot Bay herabscheinen. Ich bin so froh, dass ich lange genug geblieben bin, um diesen Sonnenaufgang zu erleben, dachte sie.
    Sie versuchte, leise zu sein, um Henry nicht zu wecken,
und schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter, um Kaffee zu kochen. Sie war gerade im Begriff, den Wasserhahn aufzudrehen, um die Kanne zu füllen, als sie aus dem Nebenzimmer das unverkennbare Geräusch von raschelndem Papier hörte. Sie stellte die Kanne ab und warf einen verstohlenen Blick in die Bibliothek.
    Henry saß zusammengesunken auf einem Stuhl am Esstisch, den Kopf gesenkt, vor sich einen Wust von Papieren.
    Aufgeschreckt rannte sie zu ihm hin. Sie befürchtete schon das Schlimmste, doch als sie ihn an der Schulter fasste, richtete er sich auf und sah sie an. »Ich habe ihn gefunden«, sagte er.
    Ihr Blick fiel auf die handgeschriebenen Seiten, die vor ihm auf dem Tisch lagen, und sie sah die drei bekannten Initialen: O.W.H. »Noch ein Brief!«
    »Ich denke, es ist vielleicht der letzte, Julia.«
    »Aber das ist ja wunderbar!«, sagte sie. Doch dann fiel ihr auf, wie blass er war und dass seine Hände zitterten. »Was ist denn?«
    Er gab ihr den Brief. »Lesen Sie.«

30
    1830
     
    Der grausige Gegenstand hatte schon zwei Tage in Whiskey gelegen, und im ersten Moment konnte Rose den Inhalt des Kruges nicht identifizieren. Sie sah nur einen Lappen rohen Fleischs, eingetaucht in eine teefarbene Brühe. Mr. Pratt drehte den Krug und hielt ihn Rose vors Gesicht, um sie zu zwingen, genauer hinzusehen.
    »Wissen Sie, wer das ist?«, fragte er.
    Sie starrte in den Krug, als der Gegenstand plötzlich aus seinem unappetitlichen Bad aus Alkohol und altem Blut auftauchte und gegen das Glas geschwemmt wurde, das jedes Detail vergrößerte. Rose prallte entsetzt zurück.
    »Es ist ein Gesicht, das Sie wiedererkennen müssten, Miss Connolly«, sagte Pratt. »Es wurde einem Mann entfernt, dessen Leiche vor zwei Tagen in einer Gasse im West End gefunden wurde, mit Schnittwunden in der Form eines Kreuzes. Und der Tote war Ihr Schwager, Mr. Eben Tate.« Er stellte den Krug auf Dr. Grenvilles Tisch.
    Rose

Weitere Kostenlose Bücher