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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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waren den ganzen Nachmittag so still«, sagte er.

    »Ich muss einfach immerzu an Rose Connolly denken.«
    »Was beschäftigt Sie so?«
    »Wie stark sie gewesen sein muss, einfach nur, um zu überleben.«
    »Wenn es wirklich sein muss, bringt man meistens die nötige Kraft auf.«
    »Die habe ich nie gehabt. Auch nicht, als ich sie am dringendsten gebraucht hätte.«
    Sie gingen ein Stück am Ufer entlang, wobei sie reichlich Abstand zu der bröckelnden Kante hielten.
    »Sie reden von Ihrer Scheidung?«
    »Als Richard sagte, dass er sich scheiden lassen wollte, habe ich einfach angenommen, es sei meine Schuld, weil ich ihn nicht glücklich machen konnte. Das kommt davon, wenn einem tagaus, tagein unter die Nase gerieben wird, dass der eigene Job längst nicht so wichtig ist wie seiner. Dass man mit den Frauen seiner Kollegen intellektuell nicht mithalten kann.«
    »Wie viele Jahre haben Sie sich das bieten lassen?«
    »Sieben.«
    »Und warum haben Sie ihn nicht verlassen?«
    »Weil ich irgendwann anfing, es selbst zu glauben.« Sie schüttelte den Kopf. »Rose hätte sich das nicht gefallen lassen.«
    »Das wäre doch ein guter Leitspruch für die Zukunft. Was würde Rose tun? «
    »Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich keine Rose Connolly bin.«
    Sie sahen zu, wie der Fischer seinen Hummerkorb wieder ins Wasser warf.
    »Ich fliege am Donnerstag nach Hongkong«, sagte Tom. »Für einen Monat.«
    »Oh.« Sie verstummte. Dann würde sie ihn also einen ganzen Monat nicht sehen.
    »Ich liebe meine Arbeit, aber sie bedeutet, dass ich die Hälfte der Zeit nicht zu Hause bin. Stattdessen bekämpfe ich
Epidemien, versuche, das Leben anderer Menschen zu retten, und vergesse dabei, dass ich selbst auch ein Privatleben habe.«
    »Aber Sie können dabei so viel Gutes tun.«
    »Ich bin zweiundvierzig, und mein Hausgenosse verbringt die Hälfte des Jahres bei einem Hundesitter.« Er starrte ins Wasser. »Na ja, ich denke jedenfalls darüber nach, die Reise abzublasen.«
    Sie merkte, wie ihr Puls sich beschleunigte. »Warum?«
    »Teils wegen Henry. Er ist immerhin neunundachtzig, und er wird nicht ewig leben.«
    Natürlich, dachte sie. Es geht immer nur um Henry. »Wenn er Probleme hat, kann er ja mich anrufen.«
    »Das ist eine große Verantwortung. Ich möchte sie niemandem zumuten.«
    »Ich habe ihn schon richtig ins Herz geschlossen. Er ist jetzt ein Freund, und ich lasse meine Freunde nicht im Stich.« Sie blickte auf, als eine Möwe vorbeischoss. »Seltsam, wie so ein Haufen alter Knochen zwei Menschen zusammenbringen kann. Menschen, die sonst absolut gar nichts gemeinsam haben.«
    »Also, er mag Sie jedenfalls. Er sagte mir, wenn er bloß zehn Jahre jünger wäre...«
    Sie lachte. »Als ich ihm das erste Mal begegnet bin, hatte ich den Eindruck, dass er mich kaum ausstehen kann.«
    »Henry kann kaum einen Menschen ausstehen, aber Sie mag er inzwischen wirklich.«
    »Es ist wegen Rose. Sie ist unsere einzige Gemeinsamkeit. Wir sind beide von ihr besessen.« Sie sah dem Hummerboot nach, als es davontuckerte und eine weiße Furche in die metallisch graue Fläche der Bucht schnitt. »Ich träume sogar schon von ihr.«
    »Was sind das für Träume?«
    »Es ist, als ob ich sie wäre, als ob ich sähe, was sie gesehen hat. Die Kutsche, die Straßen, die Kleider. Das kommt davon, dass ich so viel Zeit damit verbracht habe, all diese Briefe zu lesen.
Sie dringt schon in mein Unterbewusstsein vor. Ich kann mir fast einbilden, ich wäre selbst dort gewesen; es kommt mir alles inzwischen so... bekannt vor.«
    »So, wie Sie mir irgendwie bekannt vorkommen.«
    »Ich wüsste nicht, wieso.«
    »Und doch habe ich ständig das Gefühl, dass ich Sie kenne. Dass wir uns schon einmal begegnet sind.«
    »Ich kann mir nicht denken, wo und wann das gewesen sein soll.«
    »Nein.« Er seufzte. »Ich auch nicht.« Er sah sie an. »Also, dann gibt es wohl keinen Grund, meine Reise abzublasen. Oder?«
    Es steckte mehr hinter dieser Frage, als sie beide sich eingestehen wollten. Sie erwiderte seinen Blick, und was sie in seinen Augen sah, machte ihr Angst, denn in diesem Moment sah sie sowohl neue Chancen als auch neue Enttäuschungen. Und für beides war sie nicht bereit.
    Julia blickte aufs Meer hinaus. »Henry und ich kommen schon klar.«
     
    In dieser Nacht träumte Julia wieder von Rose Connolly. Nur dass diesmal Rose nicht das Mädchen mit den geflickten Kleidern und dem ascheverschmierten Gesicht war, sondern eine ernste junge Frau mit

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