Leichenraub
Nacht, als Meggie zur Welt kam, waren zwei Krankenschwestern und ein Arzt im Raum. Jetzt sind alle drei tot, weil sie das Geheimnis meiner Schwester kannten. Sie haben den Namen von Meggies Vater erfahren.«
»Einen Namen, der Ihnen noch immer unbekannt ist«, sagte Grenville.
»Ich war nicht dabei. Das Baby hat so laut geschrien, deswegen bin ich mit ihr hinausgegangen. Später forderte Agnes Poole mich auf, sie herzugeben, aber ich weigerte mich.« Rose schluckte und setzte leise hinzu: »Und seitdem jagen sie mich.«
»Es ist also das Kind, das sie wollen?«, fragte Eliza. Sie sah ihren Bruder an. »Es muss geschützt werden.«
Grenville nickte. »Wo ist Ihre Nichte, Miss Connolly?«
»Versteckt, Sir. An einem sicheren Ort.«
»Sie könnten sie aufspüren«, wandte er ein.
»Ich bin die Einzige, die weiß, wo sie ist.« Sie sah ihm in die Augen und sagte mit ruhiger Stimme: »Und niemand kann mich zwingen, es zu verraten.«
Er hielt ihrem Blick stand und schien sie zu taxieren. »Ich zweifle nicht eine Sekunde an Ihnen. Sie haben sie so lange vor jedem Schaden bewahrt. Sie wissen besser als irgendjemand sonst, was das Beste ist.« Er stand abrupt auf. »Ich muss jetzt gehen.«
»Wohin?«, fragte Eliza.
»Ich muss mich in dieser Angelegenheit mit gewissen Leuten beraten.«
»Wirst du zum Abendessen zurück sein?«
»Das weiß ich nicht.« Er ging hinaus in den Flur und zog seinen Mantel an.
Rose folgte ihm. »Dr. Grenville, was soll ich tun? Wie kann ich helfen?«
»Bleiben Sie hier.« Er sah seine Schwester an. »Eliza, sorge dafür, dass es dem Mädchen an nichts fehlt. Solange sie unter unserem Dach weilt, darf ihr kein Leid geschehen.« Er ging zur Tür hinaus, und ein eisiger Luftschwall wehte herein, der Rose die Tränen in die Augen trieb. Sie musste blinzeln.
»Sie haben kein Zuhause, nicht wahr?«
Rose drehte sich zu Eliza um. »Nein, Madam.«
»Mrs. Furbush kann Ihnen in der Küche ein Bett aufschlagen.« Elizas Blick streifte Roses geflicktes Kleid. »Und neue Kleider kann sie Ihnen gewiss auch besorgen.«
»Danke.« Rose räusperte sich. »Danke für alles.«
»Mein Bruder ist derjenige, bei dem Sie sich bedanken müssen«, sagte Eliza. »Ich hoffe nur, dass diese Affäre ihn nicht ruiniert.«
Es war das vornehmste Haus, das Rose je betreten hatte, und ganz gewiss das vornehmste, in dem sie je übernachtet hatte. Die Küche war warm, die Kohlen im Kamin glühten noch und gaben reichlich Hitze ab. Ihre Decke war aus schwerem Wollstoff, ganz anders als der fadenscheinige Umhang, in den sie sich in so vielen kalten Nächten gehüllt hatte, ein armseliger alter Lumpen, der nach sämtlichen Logierhäusern und sämtlichen schmutzigen Strohbetten roch, in denen sie je geschlafen hatte. Die resolute Haushälterin Mrs. Furbush hatte darauf bestanden, diesen Umhang zusammen mit Roses übrigen abgetragenen Kleidern ins Feuer zu werfen. Was das Mädchen selbst betraf, so hatte Mrs. Furbush Seife und reichlich heißes Wasser kommen lassen, denn Dr. Grenville vertrat die Ansicht, dass ein sauberer Haushalt auch ein gesunder Haushalt sei. Frisch gebadet und mit einem sauberen Nachthemd bekleidet, lag Rose nun in einem Feldbett nahe dem Kamin und genoss den ungewohnten Luxus. Sie wusste, dass auch Meggie heute Nacht im Warmen und in Sicherheit war.
Aber was war mit Norris? Wo schlief er heute Nacht? Fror er, war er hungrig? Warum hatte sie nichts von ihm gehört?
Das Abendessen war schon längst vorbei, aber Dr. Grenville
war noch immer nicht zurück. Rose hatte den ganzen Abend mit gespitzten Ohren gewartet, doch sie hatte weder seine Stimme noch seine Schritte gehört. »Das liegt in der Natur seines Berufs, Mädchen«, hatte Mrs. Furbush gesagt. »Man kann nicht erwarten, dass ein Arzt geregelte Arbeitszeiten hat. Immer wieder wird er nachts zu Patienten gerufen, und manchmal kommt er erst gegen Morgen zurück.«
Lange nachdem der Rest des Haushalts sich zur Ruhe begeben hatte, war Dr. Grenville immer noch nicht zurück, und Rose lag immer noch wach. Die Kohlen im Kamin waren erkaltet und zu Asche zerfallen. Durch das Küchenfenster konnte sie im Mondschein die Silhouette eines Baums sehen, und sie hörte den Wind im Geäst rauschen.
Und dann hörte sie noch etwas anderes: knarrende Schritte auf der Dienstbotentreppe.
Sie blieb reglos liegen und lauschte, während das Knarren immer vernehmlicher wurde und die Schritte sich der Küche näherten. Eines der Dienstmädchen vielleicht, das
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