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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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er offensichtlich mehr erwartete,
stellte sie die Flasche in den Schrank zurück und sagte bestimmt: »Ich helfe Ihnen zurück auf Ihr Zimmer.«
    Mit der Kerze in der Hand führte sie ihn die Stufen zum ersten Stock hinauf. Sie war noch nie hier oben gewesen, und als sie ihm den Flur entlanghalf, wurde ihr Blick von all den Wunderdingen angezogen, die im Kerzenschein aus dem Dunkel auftauchten. Sie sah einen prächtig gemusterten Teppich und einen Tisch aus glänzend poliertem Holz. An der Wand hing eine Galerie von Porträts, lauter feine Herren und Damen, so lebensecht dargestellt, dass sie spürte, wie die Augen ihr folgten, während sie Charles zu seinem Zimmer führte. Als sie ihm schließlich ins Bett half, schwankte er schon bedenklich, als ob dieser kleine Schluck Brandy zusammen mit dem ganzen Morphium, das er bereits im Leib hatte, ihn auf einen Schlag sturzbetrunken gemacht hätte. Mit einem Seufzer ließ er sich auf die Matratze fallen.
    »Danke, Rose.«
    »Gute Nacht, Sir.«
    »Er kann sich wirklich glücklich schätzen, unser Norris. Ein Mädchen zu haben, das ihn so liebt, wie Sie es tun. Das ist die Art von Liebe, von der die Dichter singen.«
    »Ich verstehe nichts von Gedichten, Mr. Lackaway.«
    »Das müssen Sie auch nicht.« Er schloss die Augen und seufzte wieder. »Denn Sie kennen die wahre Liebe.«
    Sie sah zu, wie seine Atemzüge tiefer wurden, bis er schließlich eingeschlafen war. Ja, ich kenne die wahre Liebe. Und jetzt werde ich sie vielleicht verlieren.
    Sie nahm die Kerze, verließ sein Zimmer und trat wieder hinaus in den Flur. Dort hielt sie plötzlich inne, den Blick auf ein Gesicht geheftet, das sie anstarrte. Im Halbdunkel des Korridors, mit der Kerzenflamme als einziger Beleuchtung, wirkte das Porträt so verblüffend lebensecht, dass sie wie angewurzelt davor stehen blieb, überwältigt von der unerwarteten Vertrautheit dieser Züge. Sie sah einen Mann mit einem dichten, üppigen Haarschopf und dunklen Augen, die eine lebhafte Intelligenz widerspiegelten. Er schien geradezu
darauf zu brennen, sie von der Leinwand herunter in eine Diskussion zu verwickeln. Rose trat näher, um jeden Schatten, jede Rundung dieses Gesichts genauestens zu inspizieren. So gefesselt war sie von dem Bildnis, dass sie die Schritte, die auf sie zukamen, erst hörte, als sie fast direkt hinter ihr waren. Ein Knarren der Dielen ließ sie herumfahren, und sie erschrak dermaßen, dass sie fast die Kerze fallen ließ.
    »Miss Connolly?«, sagte Dr. Grenville und musterte sie stirnrunzelnd. »Dürfte ich fragen, warum Sie um diese Stunde hier im Haus umherirren?«
    Sie hörte den Argwohn in seiner Stimme und errötete. Er nimmt gleich das Schlimmste an, dachte sie; bei den Iren nehmen sie immer gleich das Schlimmste an. »Es war wegen Mr. Lackaway, Sir.«
    »Was ist mit meinem Neffen?«
    »Er kam herunter in die Küche. Er schien mir etwas wacklig auf den Beinen zu sein, also habe ich ihm in sein Bett zurückgeholfen.« Sie deutete auf Charles’ Tür, die sie offen gelassen hatte.
    Dr. Grenville warf einen Blick ins Zimmer und sah seinen Neffen auf dem Bett liegen, alle viere von sich gestreckt und laut schnarchend.
    »Es tut mir leid, Sir«, sagte sie. »Ich wäre nicht heraufgekommen, wenn er nicht...«
    »Nein, ich bin es, der sich entschuldigen muss.« Er seufzte. »Es war ein sehr anstrengender Tag, und ich bin erschöpft. Gute Nacht.« Er wandte sich zum Gehen.
    »Sir?«, sagte sie. »Gibt es Neuigkeiten von Norris?«
    Er hielt inne. Widerstrebend drehte er sich zu ihr um. »Ich muss leider sagen, dass es wenig Grund zum Optimismus gibt. Die Beweise sind erdrückend.«
    »Die Beweise sind gefälscht.«
    »Das muss das Gericht entscheiden. Aber bei Gericht entscheiden Fremde, die nichts über ihn wissen, über seine Schuld oder Unschuld. Sie wissen nichts als das, was sie in der Zeitung gelesen oder in der Schenke gehört haben. Dass Norris
Marshall in der Nähe der Tatorte aller vier Morde wohnt. Dass er über die Leiche von Mary Robinson gebeugt angetroffen wurde. Dass das herausgeschnittene Gesicht von Eben Tate in seiner Wohnung gefunden wurde. Dass er ein geschickter Präparator und zugleich im Schlachterhandwerk erfahren ist. Für sich genommen wäre jeder dieser Punkte anfechtbar. Aber wenn sie zusammen vor Gericht vorgetragen werden, wird seine Schuld unbestreitbar erscheinen.«
    Sie starrte ihn betroffen an. »Können wir denn gar nichts zu seiner Verteidigung tun?«
    »Ich fürchte, es ist schon

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