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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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so mancher für weniger an den Galgen gebracht worden.«
    Außer sich vor Verzweiflung packte sie seinen Ärmel. »Ich kann nicht zulassen, dass sie ihn hängen!«
    »Miss Connolly, noch ist nicht alles verloren. Es gibt vielleicht noch eine Möglichkeit, ihn zu retten.« Er nahm ihre Hand und sah ihr direkt in die Augen. »Aber ich werde Ihre Hilfe benötigen.«

31
    »Billy. Hier drüben, Billy!«
    Der Junge blickte sich verwirrt um und suchte die Dunkelheit nach demjenigen ab, der da gerade seinen Namen geflüstert hatte. Ein schwarzer Hund wuselte um seine Füße herum. Plötzlich bellte das Tier aufgeregt und kam auf Norris zugetrottet, der hinter einem Stapel Fässer kauerte. Wenigstens dieser Straßenköter dachte nicht schlecht von ihm; er wedelte mit dem Schwanz und schien ganz begeistert von der Idee, mit einem Mann, den er gar nicht kannte, ein wenig Verstecken zu spielen.
    Der einfältige Billy war da schon vorsichtiger. »Wer ist es, Tüpfel?«, fragte er, als rechnete er fest damit, von dem Hund eine Antwort zu bekommen.
    Norris trat hinter den Fässern hervor. »Ich bin’s, Billy«, sagte er und sah, wie der Junge zurückwich. »Ich tu dir nichts. Du erinnerst dich doch an mich, oder?«
    Der Junge sah seinen Hund an, der vollkommen arglos Norris’ Hand leckte. »Sie sind Miss Roses Freund«, sagte er.
    »Du musst ihr eine Nachricht von mir bringen.«
    »Die Nachtwache sagt, dass Sie der Reaper sind.«
    »Das bin ich nicht. Ich schwöre es.«
    »Sie suchen nach Ihnen, den ganzen Fluss rauf und runter.«
    »Billy, wenn du ihr Freund bist, dann tust du mir diesen Gefallen.«
    Der Junge sah wieder seinen Hund an. Tüpfel hatte sich zu Norris’ Füßen gesetzt und verfolgte schwanzwedelnd das Gespräch. Der Junge mochte nicht der Schlauste sein, aber er wusste, dass man dem Instinkt eines Hundes trauen konnte, wenn es darum ging, die wahren Absichten eines Menschen einzuschätzen.

    »Ich möchte, dass du zu Dr. Grenvilles Haus gehst«, sagte Norris.
    »Das große in der Beacon Street?«
    »Ja. Finde heraus, ob sie dort ist. Und gib ihr das hier.« Norris gab ihm einen zusammengefalteten Zettel. »Gib es ihr in die Hand. Nur ihr und niemandem sonst!«
    »Was steht denn da drin?«
    »Gib es ihr einfach.«
    »Ist es ein Liebesbrief?«
    »Ja«, antwortete Norris zu schnell, in seiner Ungeduld, den Jungen loszuschicken.
    »Aber ich liebe sie doch«, jammerte Billy. »Und ich werd sie heiraten.« Er warf den Zettel weg. »Ich denk nicht dran, ihr einen Liebesbrief von Ihnen zu bringen.«
    Norris musste sich mühsam beherrschen, als er den Brief aufhob und sagte: »Ich will sie nur wissen lassen, dass sie frei ist, ihr Leben zu leben, wie sie es will.« Er drückte Billy den Brief wieder in die Hand. »Bring ihn ihr, damit sie es weiß. Bitte.« Er fügte hinzu: »Wenn du es nicht tust, wird sie böse mit dir sein.«
    Das funktionierte – Billys größte Angst war es, Rose zu verärgern. Der Junge steckte den Zettel in die Tasche. »Ich würde alles für sie tun«, sagte er.
    »Erzähl niemandem, dass du mich gesehen hast.«
    »Ich bin doch nicht blöde«, versetzte Billy. Dann stapfte er in die Dunkelheit davon mit seinem Hund, der ihm dicht auf den Fersen folgte.
    Norris hielt sich nicht lange auf, sondern machte sich gleich auf den Weg in Richtung Beacon Hill. Billy mochte ja die besten Absichten haben, aber Norris traute ihm nicht zu, dass er ein Geheimnis für sich behalten konnte. Und er hatte nicht vor, hier zu warten, bis die Nachtwache kam, um ihn einzukassieren.
    Falls sie tatsächlich immer noch glaubten, dass er am Leben war und sich in Boston aufhielt, nachdem nun schon drei Tage vergangen waren.

    Die Kleider, die er gestohlen hatte, passten ihm nicht; die Hose war zu weit und das Hemd zu eng, aber der weite Mantel verbarg alles, und mit dem Quäkerhut, den er sich tief in die Stirn geschoben hatte, marschierte er zielstrebig die Straße hinunter, ohne zu zögern oder zu schleichen. Ich bin vielleicht kein Mörder, dachte er. Aber jetzt bin ich ganz eindeutig ein Dieb. Sie würden ihn ohnehin hängen, da kam es auf ein Verbrechen mehr oder weniger nicht an. Jetzt ging es nur noch ums nackte Überleben, und wenn es dafür nötig war, einen Mantel von einem Haken in der Schenke zu nehmen oder sich eine Hose und ein Hemd von einer Wäscheleine zu angeln, dann musste er es eben tun, wenn er nicht erfrieren wollte. Wenn er schon am Galgen enden sollte, dann wenigstens nicht, ohne tatsächlich etwas

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