Leichenraub
ein gefährliches Geschäft, das wir hier betreiben«, meinte Lyons. »Heutzutage mehr denn je. Wir können nicht riskieren, dass unser Netzwerk aufgedeckt wird; nicht, solange so viele darauf aus sind, uns auszumerzen und zu vernichten.«
»Sie sind alle Mitglieder des Ordens? Auch Dr. Grenville?«
Lyons nickte. »Auch das ist ein Geheimnis, das nicht ans Licht kommen darf.«
»Warum helfen Sie mir? Ich bin kein geflohener Sklave. Wenn Sie Mr. Pratt Glauben schenken, bin ich ein Ungeheuer.«
Lyons schnaubte verächtlich. »Und Pratt ist eine Kröte. Ich hätte ihn schon längst aus der Nachtwache hinausgeworfen, wenn ich nur könnte, aber er hat sich geschickt ins Licht der Öffentlichkeit gedrängt. Schlagen Sie heute irgendeine Zeitung auf, und Sie lesen überall nur von den Taten des heldenhaften Mr. Pratt, des genialen Mr. Pratt. In Wahrheit ist der Mann ein Idiot. Ihre Verhaftung sollte sein krönender Triumph werden.«
»Und das ist der Grund, weshalb Sie mir helfen? Nur, um ihm diesen Triumph nicht zu gönnen?«
»Das wäre kaum die Mühen wert, die ich auf mich genommen habe. Nein, wir helfen Ihnen, weil Aldous Grenville vollkommen von Ihrer Unschuld überzeugt ist. Und weil es ein schweres Unrecht wäre, Sie am Galgen enden zu lassen.« Lyons wandte sich an die alte Frau. »Ich lasse ihn jetzt bei Ihnen, Mistress Goode. Morgen wird Mr. Wilson mit Proviant für seine Reise vorbeikommen. Es war keine Zeit mehr für derartige Vorkehrungen. Ohnehin bricht schon bald der Tag an, und es wäre das Beste, wenn Mr. Marshall morgen bis zum Einbruch der Dunkelheit wartete, ehe er die nächste Etappe
antritt.« Er sah Rose an. »Kommen Sie, Miss Connolly. Fahren wir zurück nach Boston?«
Rose wirkte betroffen. »Kann ich nicht bei ihm bleiben?«, fragte sie, und in ihren Augen schimmerten Tränen.
»Ein einzelner Reisender kann sich schneller und sicherer bewegen. Es ist wichtig, dass Mr. Marshall ungehindert vorankommt.«
»Aber es ist eine so plötzliche Trennung!«
»Es bleibt uns keine Wahl. Sobald er in Sicherheit ist, wird er nach Ihnen schicken.«
»Ich habe ihn doch gerade erst wiedergefunden! Kann ich nicht bei ihm bleiben, nur diese eine Nacht? Sie sagten, Mr. Wilson käme morgen hierher. Dann werde ich mit ihm nach Boston zurückfahren.«
Norris drückte ihre Hand noch fester und sagte an Lyons gewandt: »Ich weiß nicht, wann ich sie wiedersehen werde. Wer weiß, was geschehen wird. Bitte, gewähren Sie uns diese letzten paar Stunden miteinander.«
Lyons seufzte und nickte. »Mr. Wilson wird morgen noch vor Mittag hier sein. Seien Sie bis dahin reisefertig.«
Sie lagen im Halbdunkel; nur der Mondschein, der durchs Fenster drang, erhellte ihr Bett, doch trotz des schwachen Lichts konnte Rose sein Gesicht sehen. Und erkennen, dass auch er sie ansah.
»Versprichst du, dass du mich und Meggie nachkommen lässt?«, fragte sie.
»Sobald ich an einem sicheren Ort bin, werde ich dir schreiben. Der Brief wird einen anderen Absender tragen, aber du wirst wissen, dass er von mir ist.«
»Wenn ich doch nur gleich mit dir kommen könnte.«
»Nein, ich möchte, dass du in Dr. Grenvilles Haus bleibst, wo du in Sicherheit bist, anstatt mit mir auf irgendeiner gottverlassenen Landstraße alle möglichen Strapazen zu erdulden. Und welch ein Trost, zu wissen, dass für Meggie gesorgt ist. Du hast wirklich den besten Platz für sie gefunden.«
»Das eine Versteck, von dem ich wusste, dass du mir dazu geraten hättest.«
»Meine kluge Rose! Du kennst mich so gut.«
Er nahm ihr Gesicht in seine Hände, und sie seufzte, als sie seine Wärme auf ihrer Haut spürte. »Das Beste steht uns noch bevor. Das musst du mir glauben, Rose. All diese Prüfungen, all diese Unbilden werden unsere Zukunft nur umso angenehmer machen.« Sanft drückte er seine Lippen auf ihre, ein Kuss, der sie in den siebten Himmel hätte heben sollen. Doch stattdessen musste sie plötzlich schluchzen, denn sie wusste nicht, wann – und ob – sie sich wiedersehen würden. Sie dachte an die Reise, die vor ihm lag, an geheime Zufluchtsorte und winterliche Landstraßen – und was lag am Ende des Wegs? Sie konnte sich die Zukunft nicht vorstellen, und das war es, was ihr Angst machte. Bisher hatte sie sich immer vorstellen können, was sie als Mädchen erwartete: die Jahre der Arbeit als Näherin, dann der junge Mann, den sie eines Tages kennenlernen, die Kinder, die sie zur Welt bringen würde. Aber wenn sie jetzt nach vorn blickte,
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