Leichenraub
diesen Moment.
»Mr. Wilson ist gekommen, um dich abzuholen«, sagte Norris.
»So früh schon?«
»Wir sollten hinuntergehen, um ihn zu begrüßen.« Er kam zum Bett zurück. »Ich weiß nicht, wann ich noch einmal eine Gelegenheit bekomme, das zu sagen. Also lass es mich jetzt sagen.« Er kniete sich neben sie auf den Boden und nahm ihre Hand. »Ich liebe dich, Rose Connolly, und ich will mein Leben mit dir verbringen. Ich will, dass du meine Frau wirst. Wenn du mich haben willst.«
Sie starrte ihn durch die Tränen hindurch an. »Ja, Norrie. O ja, das will ich.«
Er drückte ihre Handfläche an seine und betrachtete lächelnd Aurnias billigen Ring, den sie nie vom Finger nahm. »Und ich verspreche dir«, sagte er, »dass der nächste Ring, den du tragen wirst, kein armseliges Ding aus Blech und Glas sein wird.«
»Ich mache mir nichts aus Ringen. Ich will nur dich.«
Lachend zog er sie an sich. »Du wirst es deinem Mann leicht machen, dich zu unterhalten!«
Ein lautes Klopfen ließ sie beide erstarren. Die Stimme der alten Frau rief durch die Tür: »Mr. Wilson ist da. Er muss sofort nach Boston zurückfahren, also sollte die junge Dame schleunigst herunterkommen.« Dann hörten sie, wie die Alte die Treppe wieder hinunterstapfte.
Norris sah Rose an. »Ich verspreche dir, das ist das letzte Mal, dass wir uns trennen«, sagte er. »Aber jetzt, meine Liebste, ist es so weit.«
32
Oliver Wendell Holmes saß in Edward Kingstons Salon, wo Kitty Welliver von links und ihre Schwester Gwendolyn von rechts auf ihn einredeten, und er kam zu dem Schluss, dass es ein weit erträglicheres Schicksal wäre, in der Hölle eingesperrt zu sein. Hätte er gewusst, dass die Welliver-Schwestern heute bei Edward zu Besuch waren, hätte er einen Bogen um das Haus gemacht – einen Bogen von mindestens zehn Tagesritten. Aber wenn man einmal das Haus seines Gastgebers betreten hat, gilt es als äußerst unhöflich, gleich darauf schreiend die Flucht zu ergreifen. Und bis er über diese Möglichkeit nachzudenken begann, war es ohnehin schon zu spät, denn Kitty und Gwen waren sofort von den Stühlen aufgesprungen, auf denen sie so dekorativ gethront hatten, und jede hatte einen von Wendells Armen gepackt, worauf sie ihn in den Salon geschleift hatten wie hungrige Spinnen, die gerade eine fette Mahlzeit erbeutet hatten. Jetzt bin ich wirklich und wahrhaftig erledigt, dachte er, während er eine Teetasse auf dem Schoß balancierte – seine dritte bereits. Er saß hier für den Rest des Nachmittags fest, und es blieb jetzt nur abzuwarten, wer sich zuerst genötigt sähe, den Besuch zu beenden, weil seine oder ihre Blase zu platzen drohte.
Leider schienen die jungen Damen Blasen aus Eisen zu haben; sie schlürften munter eine Tasse Tee nach der anderen, während sie mit Edward und seiner Mutter plauderten. Um sie nicht noch zu ermuntern, hielt Wendell zumeist den Mund, was die Mädchen allerdings wenig störte, da sie selbst kaum einmal lange genug still waren, als dass er hätte zu Wort kommen können. Wenn eine der Schwestern kurz verstummte, beispielsweise zum Zwecke des Atmens, dann sprang die andere sogleich mit irgendeinem neuen Klatsch
oder einer giftigen Bemerkung in die Bresche – ein wahrhaft unendlicher Wortstrom, begrenzt nur durch die Notwendigkeit, zwischendurch ab und zu einzuatmen.
»Sie sagte, es wäre eine absolut entsetzliche Überfahrt gewesen, und sie wäre fast gestorben. Aber dann habe ich mit Mr. Carter gesprochen, und er meinte, es sei gar nichts gewesen, bloß ein kleiner Atlantiksturm. Hat sie also wieder mal gewaltig übertrieben...«
»Wie üblich. Sie übertreibt immer . Wie neulich, als sie steif und fest behauptet hat, Mr. Mason sei ein weltberühmter Architekt. Dann haben wir herausgefunden, dass er gerade mal ein einziges kleines Opernhaus in Virginia gebaut hat, alles andere als ein beeindruckendes Bauwerk, wie ich mir habe sagen lassen, und ganz gewiss nicht auf dem Niveau von Mr. Bulfinch...«
Wendell unterdrückte ein Gähnen und starrte aus dem Fenster, während die Schwestern sich über alle möglichen Leute ausließen, die ihn nicht im Geringsten interessierten. Da steckt irgendwo ein Gedicht drin, dachte er. Ein Gedicht über alberne Mädchen in hübschen Kleidern. Kleidern, die von anderen Mädchen genäht wurden. Mädchen, die unsichtbar blieben. »... und er hat mir versichert, dass die Kopfgeldjäger ihn auf jeden Fall irgendwann erwischen werden«, sagte Kitty. »Oh, ich wusste
Weitere Kostenlose Bücher