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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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verbrochen zu haben.
    Er bog in die Acorn Street ein. Es war dieselbe Gasse, in der Gareth Wilson und Dr. Sewall sich getroffen hatten, in dem Haus mit den eingemeißelten Pelikanen auf dem Türsturz. Norris suchte sich einen dunklen Hauseingang, um dort im Schatten zu warten. Inzwischen würde Billy Dr. Grenvilles Haus erreicht haben; sein Brief würde in Roses Händen sein, eine Botschaft, die nur aus einer einzigen Zeile bestand:

Heute Abend unter den Pelikanen.
    Sollte der Brief in die Hände der Nachtwache fallen, würden die Herren daraus nicht schlau werden. Aber Rose würde wissen, was er meinte. Rose würde kommen.
    Er lehnte sich zurück und wartete.
    Die Nacht rückte vor. Eins nach dem anderen erloschen die Lichter in den Fenstern, und es wurde finster in der engen Acorn Street. Ein paar Mal hörte er noch das Geklapper eines Fuhrwerks drüben auf der weitaus belebteren Cedar Street, doch bald verstummten auch diese Geräusche.
    Er hüllte sich enger in den Mantel und sah zu, wie in der Dunkelheit die Atemwolken aus seinem Mund aufstiegen.

    Wenn es sein müsste, würde er die ganze Nacht hier warten. Wenn sie bis zum Morgengrauen nicht gekommen wäre, dann würde er am nächsten Abend wiederkommen. Er hatte genug Vertrauen zu ihr, um überzeugt zu sein, dass nichts sie aufhalten würde, sobald sie wüsste, dass er auf sie wartete.
    Seine Beine wurden allmählich steif, seine Finger taub. Im letzten Fenster in der Acorn Street erlosch das Licht.
    Und dann bog plötzlich eine Gestalt um die Ecke, die Silhouette einer Frau im Gegenlicht einer Straßenlaterne. Sie blieb in der Mitte der Gasse stehen, als versuche sie in der Dunkelheit etwas zu erkennen.
    »Norris?«, rief sie leise.
    Sofort trat er aus dem Hauseingang hervor. »Rose«, sagte er, und sie lief auf ihn zu. Er schloss sie in die Arme und hätte am liebsten laut gelacht, während er sie herumwirbelte, so glücklich war er, sie endlich wiederzusehen. Sie schien federleicht in seinen Armen, leichter als Luft, und in diesem Moment wusste er, dass sie für immer eins waren. Der Sprung in den Charles River war Tod und Wiedergeburt zugleich gewesen, und dies war sein neues Leben, mit diesem Mädchen, das ihm keine Reichtümer zu bieten hatte, keinen großen Namen, nichts außer ihrer Liebe.
    »Ich wusste, dass du kommen würdest«, murmelte er. »Ich wusste es.«
    »Du musst mir zuhören.«
    »Ich kann nicht in Boston bleiben. Aber ich kann auch nicht ohne dich leben.«
    »Es ist wichtig, Norris. Hör mich an!«
    Er wurde plötzlich still. Es war nicht ihre Aufforderung, die ihn erstarren ließ; es war der Anblick einer kräftigen Gestalt, die vom anderen Ende der Acorn Street auf sie zukam.
    Norris hörte hinter sich Hufgetrappel und fuhr im gleichen Moment herum, als der Zweispänner mitten in der Gasse stehen blieb und ihm in der anderen Richtung den Fluchtweg versperrte. Der Schlag wurde aufgerissen.

    »Norris, du musst ihnen vertrauen«, sagte Rose. »Du musst mir vertrauen.«
    Hinter ihm in der Gasse ertönte eine bekannte Stimme: »Es ist der einzige Weg, Mr. Marshall.«
    Verblüfft drehte Norris sich um und starrte den breitschultrigen Mann an, der vor ihm stand. »Dr. Sewall?«
    »Ich rate Ihnen, in diese Kutsche zu steigen«, sagte Sewall. »Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist.«
    »Sie sind unsere Freunde«, sagte Rose. Sie nahm seine Hand und drängte ihn zu der Kutsche hin. »Bitte, lass uns einsteigen, bevor noch irgendjemand dich sieht.«
    Er hatte keine Wahl. Was immer ihn erwartete, es war Roses Wille, und er hätte ihr blind sein Leben anvertraut. Sie führte ihn zur Kutsche, stieg ein und zog ihn mit sich.
    Dr. Sewall blieb draußen und klappte den Schlag zu. »Glückliche Reise, Mr. Marshall«, sagte er durchs Fenster. »Ich hoffe, wir sehen uns eines Tages wieder, unter angenehmeren Umständen.«
    Der Kutscher ließ die Zügel schnalzen, und sie fuhren los.
    Erst als Norris sich auf dem Sitz zurücklehnte, fiel sein Blick auf den Mann, der ihm und Rose gegenübersaß. Das Licht einer Straßenlaterne schien in sein Gesicht, und Norris konnte nur verblüfft die Augen aufreißen.
    »Nein, dies ist keine Festnahme«, sagte Constable Lyons.
    »Was ist es dann?«, fragte Norris.
    »Ein Gefallen für einen alten Freund.«
     
    Sie fuhren aus der Stadt hinaus, über die West Boston Bridge und durch das Dorf Cambridge. Es war die gleiche Strecke, auf der er erst wenige Nächte zuvor als Gefangener transportiert worden war, doch dies war eine

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